"heute journal"-Chef Stefan Leifert: "Man muss sich der Verantwortung vor der Wahl bewusst sein"

Politbarometer-Leiter im Interview Er ist bei der Bundestagswahl im ZDF der Mann für die Zahlen: "heute journal"-Chef Stefan Leifert über mögliche Überraschungen, Lampenfieber und die Verantwortung des Journalismus bei der Wahl.

Nach einem kurzen Winterwahlkampf naht die Entscheidung und damit der Höhepunkt der TV-Berichterstattung zur Bundestagswahl: Wenn am Sonntag, 23. Februar, um 18 Uhr die Wahllokale schließen, schlägt die Stunde der Hochrechnungen und Analysen - und derjenigen, die bei den Sendern für die aktuellen Zahlen zuständig sind. Im Zweiten übernimmt diese Rolle seit vergangenem Jahr Stefan Leifert, der seither auch das "heute journal" leitet. Für den 48-Jährigen, der zuvor als ZDF-Korrespondent in Brüssel und zuletzt als Leiter des bayerischen Landesstudios arbeitete, geht es Schlag auf Schlag: Nach seinem Einstand bei den US- und Landtagswahlen präsentiert der Politbarometer-Chef nun an der Seite von Moderatorin Shakuntala Banerjee gemeinsam mit der Forschungsgruppe Wahlen die Ergebnisse am Abend der Wahl (ab 17 Uhr). Worauf es dabei ankommt, ob er Überraschungen erwartet und wie aufgeregt er vor dem Wahlsonntag ist, verrät Leifert im Interview.

teleschau: Seit August 2024 sind Sie nicht nur Chef des "heute journals", sondern Sie präsentieren auch das Politbarometer im Zweiten. Mit der US-Wahl und den Landtagswahlen hatten sie schon Ihre Feuertaufen. Ist die Bundestagswahl trotzdem noch einmal neue Herausforderung?

Stefan Leifert: Ja, schon. Für einen Politikjournalisten und jemanden, der die Zahlen einer Wahl präsentiert, ist die Bundestagswahl das Hochamt. Ähnlich wie für einen Sportjournalisten wahrscheinlich die Fußball-Weltmeisterschaft. Das macht es interessant, aber zugleich auch zu einer echten Herausforderung, wenn es darum geht, den Überblick zu behalten.

teleschau: Sind sie vor dem 23. Februar aufgeregter als normalerweise?

Leifert: Ich mache schon lange Fernsehen, aber vor so einer Sendung ist man angespannt. Doch das hilft: Gesundes Lampenfieber führt zu mehr Konzentration.

teleschau: Wie bereiten Sie sich mit Ihrem Team auf den Tag vor - insbesondere auf mögliche Überraschungen?

Leifert: Die Forschungsgruppe Wahlen hat jahrzehntelange Routine, auf die man sich verlassen kann. In den vergangenen Jahren haben sie keine großen Fehler gemacht und waren immer relativ nah am Endergebnis, mal mit mehr, mal mit weniger Abstand. Daran entscheidet es sich.

teleschau: Hat sich im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen in den letzten Jahren auch am Umgang mit den Zahlen etwas geändert?

Leifert: Ja, das Instrumentarium muss immer wieder angepasst werden. Die Anhängerschaft von Parteien vor allem am rechten Rand verweigert häufiger die Teilnahme an Umfragen oder gibt keine oder eine andere Auskunft über ihre Wahlabsicht. Das wird im Modell für die Projektion, also die Sonntagsfrage, oder auch für die Prognose am Wahlabend berücksichtigt. Das Verhalten bei der Beantwortung von Umfragen kann also ein anderes sein als in der Wahlkabine. Das richtig einzuschätzen, macht die Kunst und das Handwerk der Demoskopen aus.

"Der Wählermarkt ist volatiler geworden"

teleschau: Für wie wahrscheinlich halten Sie eine überraschend große Abweichung von allen Umfragen am Wahltag?

Leifert: Nicht für sehr wahrscheinlich, dafür ist die Lage seit Wochen und Monaten zu stabil, die Lager haben sich verfestigt. Aber nach den Wochen eines Schlafwagen-Wahlkampfes ist durch das schreckliche Ereignis von Aschaffenburg noch einmal politische Bewegung entstanden, die sich in Zahlen in der Wahlkabine ausdrücken kann. Seither haben wir einen offeneren Wahlkampf als in den Wochen zuvor. Es gibt ein emotional sehr aufgeladenes Thema, zu dem sich alle Akteure und Parteien verhalten müssen. Und dieses Verhalten erscheint mir offen und nicht ritualisiert.

teleschau: Wie groß ist der Einfluss von einzelnen Ereignissen, Katastrophen und Taten wie jener in Aschaffenburg grundsätzlich auf das Wählerverhalten - auch im Vergleich zu früheren Wahlen?

Leifert: Auf Zahlen gestützt kann man sagen: Das Wählerverhalten, der Wählermarkt ist volatiler geworden. Der Anteil der Stammwähler ist geringer geworden - und die Bereitschaft, seine Wahlpräferenz zu verändern und sich von einer Wahl zur nächsten umzuentscheiden, größer. Geschehnisse wie Hochwasser und Irakkrieg haben ja schon in der Vergangenheit gezeigt, dass punktuell einmalige Ereignisse Bewegung erzeugen können. Das kann immer passieren. Aber es ist selten, dass es kurz vor der Wahl ein großes Thema gibt, zu dem sich alle verhalten müssen - und von dem viele Menschen wahrscheinlich ihre Wahlentscheidung abhängig machen.

teleschau: Oft ist die Rede davon, dass Umfragen und bestimmte Meldungen das Wählerverhalten beeinflussen können. Welche Verantwortung tragen die Medien in diesem Wahlkampf dahingehend?

Leifert: Die Frage nach der medialen Verantwortung im Blick auf die Demoskopie ist total berechtigt. Ich frage mich auch oft: Verursachen oder verstärken wir nicht Stimmungen mit - statt sie nur zu messen? Wir haben genau das auch schon abgefragt: Etwa 20 Prozent der Befragten sagen, dass demoskopische Umfragen ihr Wahlverhalten beeinflussen würden. Das ist nicht wenig. Man muss sich der Verantwortung vor der Wahl bewusst sein. Das sollte aber nicht dazu führen, die Umfragen sein zu lassen, sondern mit den Deutungen vorsichtiger umzugehen.

teleschau: Worauf genau sollte man achten?

Leifert: Man sollte vermeiden, jede Umfrage mit "Umfragehammer" oder "Partei XY knallt runter" zu überschreiben. Da suggeriert man Verschiebungen, die so gar nicht stattfinden. In der Regel reden wir von Verschiebungen von einem bis drei Prozentpünktchen. Das sind selten Erdrutschbewegungen, auch wenn das manche Medien so suggerieren. Was wir journalistisch daraus machen, klingt vielleicht nicht so spektakulär, entspricht aber dem Verständnis von Wahlumfragen, mit dem wir arbeiten.

"Wir stellen fest, dass die Fronten verhärtet sind"

teleschau: Ist diese Verantwortung umso größer angesichts einer von vielen diagnostizierten, bislang nicht gekannten Polarisierung in diesem Wahlkampf?

Leifert: Die Polarisierung messen wir auch. Man sieht das daran, dass man egal bei welcher Frage, sei es zu Parteien oder Themen, immer diese zwei Blöcke sieht: ein linkes und ein bürgerlich-rechtes Lager, bei denen es jeweils nur innerhalb zu Verschiebungen kommt. Fragt man nach den Kanzlerkandidaten Merz und Habeck, schart sich das gesamte linksliberale Spektrum hinter Habeck, das andere hinter Merz. Fragt man nach Merz und Scholz, ist es ähnlich. Auch bei Sachthemen gibt es diese Polarisierung: Wir stellen fest, dass die Fronten verhärtet sind.

teleschau: Gibt es für Sie als Neuling in der Demoskopie auch nach jahrelanger Erfahrung noch einmal neue journalistische Blickwinkel respektive Erkenntnisse?

Leifert: Das ist eine Art Arbeit, die ich zuvor nicht kannte - intern nennen wir das "Zahlenmann" (lacht). Für mich, aus dem Politikjournalismus kommend, ist die Aufgabe an dieser Schnittstelle sehr reizvoll: Das journalistische Denken trifft hier auf strenge demoskopische Methoden. Für uns ist es herausfordernd, am Montag zu wissen, was am Ende der Woche noch interessant sein könnte. Und für die Forschungsgruppe Wahlen ist es wichtig, wie man das, was wir journalistisch wissen wollen, nach sozialwissenschaftlichen Methoden in einen Fragekatalog gegossen bekommt.

teleschau: Wie läuft das in einer Standardwoche ab?

Leifert: Am Montag besprechen wir alles, dann geht die Forschungsgruppe am Dienstag ins Feld, wie das genannt wird. Donnerstagabend haben wir dann die ersten Daten vorliegen, die wir am Freitag veröffentlichen. Wir sind ein kleines Team, bestehend aus drei ZDF-Leuten und zwei Kollegen der Forschungsgruppe.

teleschau: Wie gehen Sie vor, sobald die Zahlen vorliegen?

Leifert: Wie versuchen zu deuten und herauszulesen, was das erstaunlichste Detail ist, wo ist die größte Bewegung. Das gleichen wir dann mit den Kollegen der Forschungsgruppe ab. Die Frage ist: Welche journalistische Kernbotschaft generieren wir daraus? Je näher die Wahl rückt, umso interessanter wird das. Kleinere Verschiebungen können größere Auswirkungen haben. Landet eine Partei plötzlich dreimal hintereinander unter der Fünf-Prozent-Hürde, dann ist das schon aussagekräftig.



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