"Ich hatte es auch oft nicht leicht" - ein Satz, den der ein oder die andere bestimmt schon einmal gehört hat. Dahinter steckt oft viel Wahrheit, aber gleichzeitig kann er den Blick dafür verstellen, dass andere mit ganz anderen (oft unsichtbaren) Hürden zu kämpfen haben. Schwierigkeiten zu haben schließt Privilegien nicht aus.
Was bedeutet Privileg?
Der Duden beschreibt ein Privileg als ein "einem Einzelnen oder einer Gruppe vorbehaltenes Recht, Sonderrecht; Sonderregelung". Gemeint sind damit Zugänge, Möglichkeiten oder Vorteile, die nicht allen Menschen gleichermaßen offenstehen. Sie hängen oft von sozialen, finanziellen oder kulturellen Faktoren ab: Herkunft, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Bildungsstand, Alter, Gesundheit oder Wohlstand. Diese Vorteile sind in der Regel nicht das Ergebnis persönlicher Leistung, sondern basieren auf Bedingungen, in die man hineingeboren wurde oder die man sich nicht ausgesucht hat.
Privilegien zeigen sich auf sehr unterschiedliche Weise
Für manche ist es ein Privileg, nie Opfer von Rassismus oder Gewalt geworden zu sein. Für andere bedeutet es, gesund zu sein, Erfolg im Beruf zu haben oder sich keine Sorgen um ihre Wohnsituation machen zu müssen. So verschieden die Dimensionen sind, so unterschiedlich ist auch der Blick auf sie.
Alltägliche Privilegien: Eine kleine Reflexion
In diesem Artikel geht es vor allem um alltägliche Privilegien - die Dinge, die wir oft gar nicht als "besonders" wahrnehmen, weil sie für uns selbstverständlich scheinen. Vielleicht regt diese kleine Liste zum Nachdenken an:
1. War heute meine größte Sorge, dass es regnet oder zu heiß ist?
2. Ist mein Kühlschrank gefüllt - auch wenn ich ihn manchmal "leer" nenne, weil nichts Ansprechendes für mich drin ist?
3. Habe ich eine warme Wohnung, in der ich friere, weil ich das Fenster geöffnet habe - nicht, weil ich keine Heizung habe?
4. Schwitze ich, weil ich Freizeit in der Sonne genieße - und nicht, weil ich körperlich hart arbeiten muss?
5. Habe ich überhaupt Freizeit - statt rund um die Uhr für das Überleben arbeiten zu müssen?
6. Bin ich erschöpft nach einem 2-Kilometer-Lauf - und stolz, weil ich Sport machen kann?
7. Überlege ich, was ich heute essen möchte - nicht, ob ich etwas zu essen habe?
8. Ist mein Bauch rund, weil ich genug zu essen habe - nicht, weil ich keinen Zugang zu Lebensmitteln habe?
9. Habe ich Zugang zu sauberem Trinkwasser - direkt aus dem Wasserhahn?
10. Sitze ich im Café und überlege, ob ich lieber Eiskaffee oder Eisschokolade trinke - nicht, wo ich heute schlafen werde?
11. Mache ich mir Gedanken darüber, ob mein Outfit mir steht - nicht, ob ich darin diskriminiert werde?
12. Steige ich bei schlechtem Wetter einfach ins Auto - statt in nassen Klamotten zur Arbeit zu laufen?
13. Ist mein größtes Problem im Berufsverkehr ein Stau, der mich nervt - und nicht, ob ich mir ein Ticket für Bus und Bahn leisten kann?
14. Kann ich spontan von zu Hause arbeiten - weil mein Job das erlaubt?
15. Habe ich das Gefühl, dass meine Stimme zählt - und dass ich einen Platz in dieser Gesellschaft habe?
Eine Sache der Perspektive
Wie vieles im Leben, so ist auch der Blickwinkel entscheidend, mit dem wir auf bestimmte Dinge und Geschehnisse blicken. Was für den einen selbstverständlich ist, bedeutet für den anderen ein kaum erreichbares Ziel.
Wer sich daran erinnert, dass der volle Kühlschrank, das warme Zuhause oder der freie Nachmittag keine Garantie, sondern ein Geschenk sind, schärft den Blick für das, was wirklich zählt. Privilegien erkennen heißt, auch die Welt durch andere Augen sehen zu lernen - etwa durch die Augen jener, die nicht einfach wählen können, ob sie im Homeoffice arbeiten oder im Regen zur Arbeit müssen. Ein Perspektivwechsel bedeutet nicht, das eigene Glück kleinzureden, sondern es bewusster wahrzunehmen. Denn was manche für "normal" halten, ist oft ein stiller Luxus.
Privilegien zu erkennen heißt nicht, sich schuldig zu fühlen. Diese Reflexion kann unser Denken - und unser Handeln - verändern. Sie fördert Empathie, öffnet den Blick für Ungleichheiten und schafft Raum für mehr Verständnis.
Es geht nicht darum, Sorgen oder individuelle Belastungen zu relativieren
Es geht nicht darum, Sorgen oder Belastungen abzuwerten. Privilegiert zu sein bedeutet nicht, dass man keine Herausforderungen erlebt hat oder keine schweren Zeiten kennt. Aber es bedeutet, bestimmte Vorteile zu haben, die anderen womöglich fehlen. Diese Reflexion soll Anstoß zum bewussteren Hinschauen bieten.