"Ich bin ein notorischer Lügner und Blender", sagt der Rapmusiker und ehemalige YouTube-Star Taddl in einem 40-minütigen YouTube-Video über sich selbst. 2024 - das Jahr der großen Offenbarungen und Exposings. Das Jahr ist geprägt von YouTube-Beefs und Gerichtsverhandlungen, bei denen Personen des öffentlichen Lebens im Mittelpunkt der Streitigkeiten stehen. Eine große Welle von Entlarvungen wurde dieses Jahr losgetreten, und allmählich erkennen die treuen Zuschauer, dass es sich bei ihren Vorbildern um echte Menschen mit Fehlern handelt. Die Idealisierung und Ikonisierung von Kunstfiguren steigt im medialen Zeitalter ins Unermessliche. Doch woher kommt dieser Drang zur Überhöhung? Sollten wir uns und unsere Mitmenschen besser davor schützen - oder gibt es auch positive Aspekte?
Warum mögen wir YouTube Beefs?
Die deutsche YouTube-Szene ist seit ihrer Entstehung kontrovers zu betrachten. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen, Anfeindungen und öffentlichen Streitigkeiten. Oftmals generieren diese Konflikte enorme Aufmerksamkeit und Reichweite, sodass sich manche YouTuber an solchen Kontroversen hochziehen. Die Zuschauer lieben diesen Content: brisant, aufregend und spannend. Dieses Phänomen lässt sich durch den Negativitätseffekt, auch Negativity Bias, erklären. Dieser besagt, dass Menschen schlechte Nachrichten oft deutlich interessanter finden als positive Informationen. Wer kennt es nicht: Ein eigentlich unauffälliger YouTuber startet plötzlich einen spannenden Beef und wird schlagartig relevant, während die Klickzahlen in die Höhe schießen. Manche YouTuber sind nur wegen solcher Beefs bekannt geworden - wie zum Beispiel "Tanzverbot". Seine gesamte YouTube-Karriere basiert auf Ansagen, Streit und Meinungen, die die Zuschauer geradezu aufsaugen und mit Klicks und Kommentaren unterstützen.
Obwohl die Zeit der großen Beefs eigentlich schon vorbei ist, wiederholt sich dieses Phänomen in diesem Jahr, und es gab erneut viel Gesprächsstoff in der YouTube-Szene - vor allem durch sogenannte "Expose"-Videos. Doch was genau bedeutet dieses Videokonzept, und was hat das mit Idealisierung zu tun?
Meinungen und Reaktionen: Der Trend der Exposings
Zwei Auseinandersetzungen zogen mich als neutralen Zuschauer zurück auf YouTube und ließen mich alles gespannt mitverfolgen. Der erste Konflikt war der zwischen den YouTubern "Ungespielt" und "Iblali", wobei auch die Ex-Freundin von Unge eine zentrale Rolle im Streit spielte. Unge ist ein YouTuber mit Millionenpublikum, bekannt für seine ruhige, humorvolle Art und seinen Kommentar- sowie Videostil. Berühmt wurde er durch Minecraft-Videos und Longboard-Touren. Aufmerksamkeit erregte er bereits, als er Deutschland verließ und auf die portugiesische Insel Madeira zog. Seither verdient er sein Geld mit Streams, in denen er auf Videos reagiert und diese kommentiert. Die Zuschauer schätzten ihn wegen seiner scheinbar ehrlichen und offenen Art - doch der Schein trügte.
Mitte des Jahres veröffentlichte seine Ex-Freundin Rachel ein "Expose"-Video, in dem sie "die Wahrheit" über Unge schilderte. Sie beschrieb ihn als rassistisch, aggressiv, machthaberisch, besitzergreifend und schlecht zu Tieren. Obwohl Rachel zuvor keine mediale Bekanntheit genoss, explodierten die Klickzahlen auf das Video. Sie berichtete, dass er sie aufgrund ihrer Herkunft beleidigt habe und einmal einen Koffer nach ihrer Katze geworfen habe. YouTube Deutschland war schockiert, und mehrere Personen veröffentlichten Videos zu diesem Thema. Kurz darauf meldete sich auch der bekannte YouTuber "Iblali" mit einem eigenen "Expose"-Video zurück auf die Plattform. Auch er bestätigte, dass Unge kompromisslos und kontrollierend sei. Unge habe ihn häufig belogen und wollte ihn offenbar nicht auf Madeira sehen. Viele YouTuber meinten bereits, dass sich Unge aufführe, als sei er der "König von Madeira" und als gehöre ihm die Insel.
Nach diesen schwerwiegenden Vorwürfen veröffentlichte Unge ein Antwortvideo, in dem er auf die Anschuldigungen einging und diese interessanterweise nicht leugnete, sondern größtenteils bestätigte. Seine Verteidigung bestand darin, zu betonen, dass auch er nur ein Mensch mit Fehlern sei. Seine Fans und die YouTube-Community zeigten sich jedoch enttäuscht von diesem Statement, da Unge sich nach dem Video weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückzog und nie auf die Rassismus- und Tierquälerei-Vorwürfe einging. Er verschwand schlichtweg aus dem Internet und gab zu verstehen, dass er genug Geld verdient habe. Die Angelegenheit wurde bald darauf wieder vergessen.
Der zweite Fall war das Self-Exposing des Rapmusikers und YouTubers Taddl. Nach den zuvor beschriebenen Streitigkeiten trat er an die Öffentlichkeit und äußerte sich kritisch zu seiner eigenen Person. Er gab an, manipulativ zu sein und ein notorischer Lügner. Er sei schlecht für sein Umfeld und nutze andere Menschen aus. Offen sprach er über seinen negativen Charakter und kritisierte die Idealisierung von Kunstfiguren und Influencern. Er sei nur ein Mensch mit Problemen und Fehlern, auch wenn er im Internet stets bodenständig und humorvoll wirke. Er forderte seine Zuschauer auf, zu erkennen, dass Influencer keine perfekten Vorbilder sind. Nach dieser Erklärung zog auch er sich aus der Öffentlichkeit zurück.
Ideale und Vorbilder gab es schon immer!
Schon in der Grundschule wird die Frage gestellt: Wer sind deine Vorbilder? Meistens nennt man die eigenen Eltern, Geschwister sowie Bekannte und Freunde der Familie. Doch es ist keineswegs ungewöhnlich, dass bereits Kinder Vorbilder aus dem öffentlichen Leben haben - sei es ein Fußballprofi wie Ronaldo oder Messi oder ein Musiker wie Freddie Mercury. Oft wählen wir Personen, zu denen wir aufgrund ihres Talents, Erfolgs oder ihrer Reichweite aufsehen. Doch nicht nur Kinder suchen sich Vorbilder; auch Jugendliche und junge Erwachsene blicken zu bestimmten Personen auf und versuchen, ihnen nachzueifern.
In unserer Smartphone-Gesellschaft haben junge Menschen schnellen Zugang zu ihren Vorbildern und wollen wie ihre Idole sein. Immer mehr Streamer wie Eligella oder Monte werden als Vorbilder gesehen. Junge Menschen eifern ihnen nach, übernehmen ihre Sprache und gestalten ihr Weltbild danach. Darin liegt eine Gefahr, denn unbewusst werden sie von medialen Personen beeinflusst. Videos und Fotos können bearbeitet, Ungereimtheiten verschleiert und Fehler kaschiert werden.
Die Idealisierung von Personen war schon immer ein Problem, doch in der heutigen Gesellschaft ist es auffälliger und allgegenwärtiger - besonders durch die sozialen Netzwerke, in denen sich jeder perfekt präsentiert und ästhetische Vorbilder propagiert. Das Meinungsbild wird dabei ebenso übernommen, und diese idealisierten Personen werden zum Spiegelbild des eigenen Selbst. Darin liegt die Gefahr! Die Entwicklung der eigenen Meinung und Wertevorstellung kann dadurch stark beeinflusst und fehlgeleitet werden. Daher ist es wichtig, junge Menschen aufzuklären und für diese Themen zu sensibilisieren.
Boykott: Künstler sind auch ,,nur" Menschen
Zum Abschluss des Artikels möchte ich ein weiteres kontroverses Thema ansprechen. Kürzlich hatten meine Freunde und ich eine interessante Diskussion über den Boykott von Musikern, die in Skandale verwickelt sind. Musiker wie Rammstein und Marilyn Manson sind Paradebeispiele für solche Kontroversen. Aber sollte man diese Künstler boykottieren oder die Kunst von der Person trennen?
In solchen Momenten wird wieder deutlich, dass wir oft zu viel von Kunstfiguren erwarten - wir sehen sie als perfekt und fehlerfrei, als Menschen, die keine Straftaten begehen. Die Realität sieht jedoch anders aus. Sie sind, wie alle anderen, fehlbar und manchmal sogar kalt und berechnend. Gegen Rammstein und Marilyn Manson laufen Ermittlungen wegen Vergewaltigungs- und Missbrauchsvorwürfen. Jeder mit einem ausgeprägten moralischen Kompass würde solche Personen wohl kaum unterstützen. Doch einige argumentieren, dass man die Musik von den Persönlichkeiten dahinter trennen sollte. Bei schwerwiegenden Fällen wie diesen scheint ein Boykott jedoch mehr als gerechtfertigt.
Schwieriger wird es, wenn Personen "nur" durch verwerfliches Verhalten auffallen - was in der Rockszene keine Seltenheit ist. Zum Beispiel gerät Ronnie Radke, Frontmann der Band Falling in Reverse, immer wieder in Konflikt mit dem Gesetz, und trotzdem würde ich persönlich nicht über einen Boykott nachdenken. Ein ähnliches Beispiel ist eine meiner Lieblingsbands, The Licks, deren Mitglieder sich von ihrem Frontmann trennten, weil er sich als manipulative und problematische Person entpuppte. Dennoch ist dies für mich kein Grund, die gesamte Band zu kritisieren, zumal sie sich mit ihrem Austritt richtig verhalten haben. Am Ende muss jeder für sich entscheiden, wo ein Boykott ansetzen sollte - und ob ein völliger Verzicht immer der richtige Weg ist.
Eigene Meinung
Schlussendlich gilt zu sagen, dass Vorbilder etwas schönes sind und es wichtig ist, Vorbilder zu haben. Beispielsweise sind bis heute David Gilmour von Pink Floyd und Mark Knopfler von Dire Straits meine Vorbilder an der Gitarre. Es ist wichtig, sich an Menschen zu orientieren, die besondere Fähigkeiten haben, jedoch sollte man immer seinen eigenen Weg und seine eigen Art und Weise finden, Probleme zu bewerkstelligen. Es ist gut sich zu orientieren, aber man sollte niemals seinen eigenen Charakter für eine Kunstfigur verstellen oder anpassen. Jeder ist individuell und niemand ist wie der Andere und diese Diversität macht die Gesellschaft aus. Von daher, sollte man alles hinterfragen und kritisch beäugen. Trotz dessen sind Vorbilder okay, aber sie sind niemals ideal und perfekt. Denn jeder Mensch ist auf seine eigen Art und Weise schön.