TikTok-Therapie: Zwischen Trenddiagnosen, Safespace und echtem Verständnis

Marius' Einblick Was sind die Chancen und Risiken von diesen aktuellen Trends

,,7 Gründe warum du ein Kindheitstrauma hast" oder ,,Ich bin depressiv - bist du es auch?" - Sätze, die uns immer häufiger auf sozialen Netzwerken begegnen. Schnelldiagnosen, Tipps zur seelischen Gesundheit - du musst nur durch deinen Feed auf deinem Lieblingsmedium scrollen und wirst früher oder später fündig. Doch wie wirksam ist die Aufarbeitung von sensiblen psychischen Problemen auf Social Media? Sind es nur Trends und Meinungsmache - den nächsten Hype mitnehmen oder steckt dahinter wahres Einfühlsamkeitsvermögen?

OMG - das bin ich!

,,Endlich teilt jemand meine Probleme" - soziale Netzwerke, ein Ort an dem du dich verstanden fühlst. Dir wird Content auf deine For You Page gespielt, egal welches Social Media - scrollen und scrollen, um tiefer in die Verbundenheit abzudriften. Doch ist es wirklich das Gefühl von Verständnis oder geht es nur um Klicks und Aufmerksamkeit?

Die Sehnsucht nach dem Verstandenwerden

Menschen sehnen sich grundsätzlich nach Verbundenheit, Gruppengefühl, Immersion und Verstandenwerden. Oftmals fühlen sich Personen mit Problemen nicht verstanden oder ausgeschlossen. Wenn sie scrollen und Beiträge finden, die genau ihre Probleme beschreiben, dann können sie sich schnell damit identifizieren und fühlen sich verstanden, da endlich jemand weiß, wie es sich anfühlt. Diagnosen werden schnell gestellt, Selbsttests zur Aufarbeitung des Kindheitstraumas und ein Pool von Menschen, die das Problem teilen und dich verstehen. Doch in Wirklichkeit ist man allein vor seinem Bildschirm und schaut sich erstellten Content an. Der Ersteller kennt dich nicht, er erkennt dein Problem nicht, sondern ist extrem distanziert. Durch die scheinbare ,,Hilfe" im Netz könnte auch eine Entfremdung zur Realität und eine noch größere Einsamkeit entstehen. Denn dieses Verständnis der Beiträge kann auch als Unterstützung assoziiert werden und birgt die Gefahr - die Probleme in der realen Welt nicht mehr wahrnehmen zu können und sich tiefer zu verschließen, vor allem in Bezug auf eine analoge Interaktion. 

Psychische Erkrankungen auf dem Display

Psychische Erkrankungen werden nun endlich öffentlich kommuniziert: ,,Ich habe ADHS, Borderline, bin depressiv, habe eine Persönlichkeitsstörung oder Angststörung. Themen, über die definitiv häufiger in der Gesellschaft gesprochen werden muss. Social Media gibt solchen Themen eine Bühne, was grundsätzlich etwas Tolles ist und auch eine Chance ist, über solche Themen aufzuklären. Viele trauen sich nicht über solche Themen zu sprechen und diese Aufklärung könnte vielen Personen helfen. Es gibt Informationen, neue Kenntnisstände und einen offenen Diskurs, doch wenn die sensiblen Themen zu Trends werden - dann kann es gefährlich werden.

Ästhetisierung von Erkrankungen und Trendsetting  

,,Jedes Mal, wenn mir jemand folgt, denke ich mir, wer hat diese Person so sehr gebrochen", danach folgt epische, melancholische Musik - die Worte hinterlegt mit dunklen Bildern. Mit solchen Phrasen werden auch neue Follower generiert. Sie fühlen sich verstanden, sind neugierig und interessiert und verfolgen den Creator oder geben den Videos zumindest ausreichend Klicks. Erkrankungen werden auch teilweise positiv dargestellt und Teil der Identität, was vor allem für jüngere Zuschauer gefährlich ist. Wenn das junge Publikum sich solche Verhaltensweisen aneignet, ist niemandem geholfen. Oftmals werden psychische Krankheiten ästhetisiert, als etwas Gutes dargestellt, was dich ausmacht. Trends werden gesetzt und einige folgen diesen Hypes. Es ist definitiv eine berechtigte Art und Weise, mit einer Krankheit umzugehen, aber wie viele Menschen wirklich krank sind und wie viele es nur vortäuschen, weil es aktuell im Trend ist - bleibt schleierhaft und unklar.

Dopamin-Kick statt Selbstreflexion

Wie so oft beim Scrollen geht es um Dopaminausschüttung. Das Schauen von Kurzvideoformaten gibt uns einen Kick, wir wollen immer mehr und viele werden sich darin verlieren, sogar bei bei ernsteren Themen wie psychische Erkrankungen. Diese Beiträge geben uns ein Gefühl von Nähe und Verbundenheit, doch zugleich schütten wir Dopamin aus, was dazu führen kann, dass wir das Gesehene mit positiven Emotionen assoziieren, wodurch wir uns abhängig machen. Vielleicht geht es uns auch gar nicht nur um die Videoinhalte, sondern um das Schauen der Videos an sich. Das kann uns ein gutes Gefühl geben und vielleicht ist es der eigentliche Hintergrund. Doch wenn Personen diese Videos wirklich aktiv schauen und verfolgen, kann es auch zur Selbstverleugnung führen. Wichtig ist, sich selbst zu reflektieren, sich zu hinterfragen und auch durchaus analoge Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn sich ernstzunehmende Anzeichen einer psychischen Erkrankung aufzeigen. 

Hilfe zur Selbsthilfe

Abschließend gilt zu sagen, dass ein kritischer Blick auf die aktuelle Mediensituation wichtig ist. Selbstreflektion und Selbstwahrnehmung sind dabei entscheidend. Auch wenn der Text einen kritischen Ton anschlägt, ist nicht alles schlecht, was Social Media uns in Bezug auf psychische Erkrankungen anbietet. Es ist sogar von großer Bedeutung, dass sensible Themen für ein breites Publikum erklärt, offenbart und besprochen werden. Ein offener Diskurs ist wichtig und es ist essentiell, dass über solche Themen gesprochen wird. Doch wie so oft, ist es nur ratsam, die Bildschirme auszulassen und nicht immer alles zu glauben, was in Reels und Shorts gezeigt wird - denn nicht alles entspricht der Wahrheit und vieles ist erfunden. 

Wichtig ist, bei ersten Anzeichen von Erkrankungen mit der Familie, Freunden oder Kollegen zu sprechen und Hilfe anzunehmen, auch abseits von Social Media, denn die Gesundheit ist und bleibt das Wichtigste. 
 

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