"Ich bin mir selber fremd geworden": Konzert in Chemnitz gegen das Vergessen der Frauen von Hoheneck

Veranstaltung Interview mit dem Komponisten Philipp Rücker über das Projekt, das auf den Gedichten der Hoheneck-Häftlinge basiert

Chemnitz. 

Am 14. Februar 2025 um 19 Uhr Uhr findet im Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis in Chemnitz ein bedeutendes kulturelles Ereignis statt - das Konzert und die Lichtinstallation "Ich bin mir selber fremd geworden" - Stimmen aus dem Frauenzuchthaus Hoheneck. Das Werk taucht tief in die dunkle Geschichte des Frauenzuchthauses Hoheneck, unweit von Chemnitz, ein. Während der DDR-Zeit war es ein Ort politischer Verfolgung, an dem tausende Frauen, die Gewalt und menschenunwürdigen Haftbedingungen ausgesetzt waren, Opfer eines Systems wurden, das versuchte, politische Gegnerinnen durch Folter, Zwangsarbeit und den gewaltsamen Bruch ihrer Identität zu brechen.

Das musikalische und visuelle Projekt

Im Zentrum des musikalischen und visuellen Projekts stehen Gedichte, die von den Inhaftierten in Hoheneck verfasst wurden. Diese wurden 2024 vom Komponisten Philipp Rücker vertont, während eine Lichtinstallation die Monotonie und Hoffnungslosigkeit des gefängnishaften Alltags plastisch erlebbar macht. Der Abend wird mit einem Gespräch mit der Zeitzeugin Elke Schlegel abschließen, die dabei hilft, die tragische Realität, die die Frauen von Hoheneck erlebten, tiefer zu verstehen.

In Vorbereitung auf dieses Ereignis führten wir ein Interview mit dem Komponisten Philipp Rücker. Er beantwortete unsere Fragen zusammen mit den Mitgliedern des kreativen Teams Schatz & Schande - der Regisseurin Leonie Sowa und der Bühnenbildnerin Leila Brinkmann. Schatz & Schande ist ein kreatives Kollektiv, das seit 2020 in Leipzig arbeitet und Theater- sowie Musiktheaterprojekte entwickelt, die sich auf sozialpolitische Themen konzentrieren und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit durch Kunst fördern. Ihre Arbeiten behandeln unter anderem die Geschichte der DDR, gesellschaftliche Spaltungen und den Rechtsruck in der heutigen Gesellschaft. In unserem Interview sprechen wir darüber, wie die Schaffung von musikalischen und performativen Formen dazu beiträgt, den Stimmen derjenigen Gehör zu verschaffen, deren tragische Geschichten nicht in Vergessenheit geraten dürfen.

Philipp Rücker wies zudem darauf hin, dass er zwar seine Gedanken und Interpretationen teilen kann, aber für genauere historische Informationen zu Hoheneck möglicherweise die Experten der Gedenkstätte Hoheneck der richtige Ansprechpartner sind, die über tiefere und fundiertere Kenntnisse zu diesen Ereignissen verfügen.

Interview mit Komponist Philipp Rücker

BLICK.de: Welche spezifischen politischen Verfolgungsmaßnahmen wurden im Frauenzuchthaus Hoheneck während der DDR-Zeit gegen die Inhaftierten angewendet?
Philipp Rücker: Hoheneck war das größte Frauengefängnis der DDR. Hier waren sowohl Straftäterinnen als auch politische Gefangene inhaftiert. Ein großer Teil der politischen Gefangenen in den 70er und 80er Jahren war wegen geplanter oder versuchter sogenannter Republikflucht inhaftiert.

BLICK.de: Inwiefern war das Gefängnis Hoheneck gezielt darauf ausgerichtet, politische Gegnerinnen der DDR zu brechen? Gab es spezielle Praktiken oder Strafmaßnahmen, die häufig eingesetzt wurden?
Philipp Rücker: Es gab verschiedene sogenannte Hausstrafen, mit denen das Wachtpersonal ungehorsame Häftlinge bestrafen konnte. Vor allem der Arrest, also die Isolationshaft, wurde angewandt. Es gab verschiedene Arrestzellen, die sehr klein, schlecht belüftet und ohne Fenster und Toilette waren. Die Häftlinge mussten während des Arrests den ganzen Tag stehen und durften nur nachts in einen separaten Bereich der Zelle, in dem sich eine Pritsche befand. Diese Zellen wurden auch "Tigerkäfige" genannt. Besonders berüchtigt und grausam war der Dunkelarrest. Hier waren die Gefangenen teilweise wochenlang in völliger Dunkelheit und Kälte. Außerdem gab es Wasserzellen, in denen zusätzlich zur absoluten Dunkelheit auch zu bestimmten Zeiten allmählich Wasser die Zelle flutete.

Neben diesen Strafmaßnahmen gab es Erniedrigungen durch das Wachtpersonal, Bespitzelungen und Gewalt unter den Inhaftierten sowie massive Überbelegung. Außerdem wurden politische Häftlinge mit lebenslänglichen Mörderinnen und anderen Straftäterinnen auf dieselben Zellen gelegt, wobei die politischen Gefangenen die unterste Rangordnung unter den Häftlingen bildeten.

BLICK.de: Wie genau waren die Haftbedingungen in Hoheneck? Wie sahen die Zellen aus, und wie war das tägliche Leben für die Inhaftierten organisiert?
Philipp Rücker: Die Haftbedingungen waren generell sehr schlecht. Das Essen war schlecht, und das Gefängnis war die meiste Zeit deutlich überbelegt. Auf den Zellen waren jeweils etwa 30 Personen. Sie schliefen in Stockbetten, drei übereinander, mit sogenannten Bodenschläfern, die im Raum zwischen den Betten auf dem Boden schlafen mussten. Es herrschte eine unglaubliche Enge, und Konflikte waren an der Tagesordnung. Ebenso Krankheiten. Hoheneck war immer kalt.

Die Inhaftierten leisteten im Dreischichtsystem Zwangsarbeit. Es wurden z.B. Perlon-Strumpfhosen oder Bettwäsche hergestellt, die für den Verkauf in den Westen vorgesehen war. Die Häftlinge erhielten dafür einen extrem geringen Lohn, mit dem sie sich Dinge des täglichen Bedarfs wie Seife, Zahnpasta und Zigaretten kaufen mussten. Die Norm, die in der Produktion erfüllt werden musste, war praktisch nicht zu schaffen, sodass auch hier extremer Stress herrschte.

BLICK.de: Welchen Einfluss hatte die Haft auf die körperliche Gesundheit und das psychische Wohlbefinden der Frauen?
Philipp Rücker: Sicherlich einen massiven. Viele sind auch nach der Haft an den Folgeschäden verstorben.

 

BLICK.de: Wie half die Kunst den Inhaftierten, die schweren Haftbedingungen zu überstehen?
Philipp Rücker: Für manche Inhaftierte war es sicherlich hilfreich und heilsam, das Erlebte künstlerisch zu verarbeiten. Eine solche Betätigung bot die Möglichkeit, sich in eine andere Welt zu versenken und vielleicht für eine begrenzte Zeit der unwirtlichen Gegenwart zu entfliehen. Sehr schön kommt dies im Gedicht "Ich möchte" von Traute Mühltaler zum Ausdruck, das auch Teil des Programms ist.
Außerdem half die Kunst und Rituale wie Weihnachtsfeiern, Geburtstagsfeiern etc., bei denen auch gesungen oder Gedichte vorgetragen wurden, dabei, die Menschlichkeit zu bewahren und nicht zu verrohen.

BLICK.de: Wie entstand die Idee, basierend auf den Gedichten weiblicher Gefangener eine musikalische Komposition zu schaffen?
Philipp Rücker: Am Anfang war die Idee, anlässlich von 35 Jahren friedlicher Revolution ein Projekt zu DDR-Geschichte zu machen. Durch die Mutter seines Schwagers, Gunhild Gerth, die selbst in Hoheneck inhaftiert war, stieß der Komponist Philipp Rücker auf einen kleinen Gedichtband mit Texten, die in Hoheneck entstanden sind. Es war schnell klar, dass Hoheneck eine extrem wichtige, hochspannende und noch nicht ausreichend in die Öffentlichkeit gebrachte Thematik darstellt. Außerdem waren die Gedichte selbst extrem authentisch und berührend, was sie zur idealen Grundlage für ein musikalisch-theatrales Projekt machte.

BLICK.de: Was hat der Titel "Ich bin mir selber fremd geworden" inspiriert und welche Bedeutung steckt hinter diesem Titel im Zusammenhang mit der Ausstellung oder dem Event?
Philipp Rücker: "Ich bin mir selber fremd geworden" ist eine Textzeile aus dem Gedicht "Die Gedanken" von Traute Mühltaler, das zentral in der Performance ist. Ohne selbst die schreckliche Situation erlebt zu haben, vermittelt dieser Satz doch einen sehr guten Eindruck davon, was das unrechtmäßige Inhaftiertsein in Hoheneck mit der Psyche der Autorin und ihrer Mitgefangenen gemacht haben muss.

BLICK.de: Welche Bedeutung hat die musikalische Begleitung und die Lichtinstallation bei der Vermittlung der Atmosphäre jener Zeit?
Philipp Rücker: Grundsätzlich geht es bei unserer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema nicht darum, eine realistische Abbildung der Verhältnisse in Hoheneck zu vermitteln. Dies ist Aufgabe der Gedenkstätten und liegt nicht in der Macht der Kunst. Im zweiten Teil des Abends gibt es jedoch ein Gespräch mit einer Zeitzeugin, das einen sehr genauen Eindruck vermittelt, bei dem auch Fragen gestellt werden können.
Was wir mit dem Projekt beabsichtigen, ist, den Autorinnen der Gedichte und allen anderen Frauen von Hoheneck ein Denkmal zu setzen, indem wir ihre Stimmen noch einmal laut werden lassen und ihre Texte in etwas Neues einfließen lassen. Die Texte sind Teil von musikalischen Kompositionen geworden und werden im Chor und solistisch gesungen. Die Kompositionen und die Lichtinstallation versuchen, das Gefühl, das in den Texten steckt und das durch die Recherche zum Thema Hoheneck verstärkt wurde, anzuklingen. Die Enge, die Beklemmung, die Angst, aber auch die Momente der Hoffnung, der Freundschaft oder der inneren Flucht finden ihren Raum.

Licht fehlte in Hoheneck. Als wir, die Regisseurin Leonie Sowa und der Lichtdesigner Franz Lehmann, das ehemalige Gefängnis besuchten, fiel uns das sofort ins Auge: düstere Kellergänge, Dunkelzellen, metallene Abdeckungen vor den Fenstern, die den Blick ins Freie verhinderten. Und die Kälte. Die Insassinnen froren das ganze Jahr über, vor allem im Winter. Das wollten wir künstlerisch vermitteln: Kälte und Dunkelheit. So entwickelten wir ein Lichtkonzept, das stark mit Reduktion arbeitet: Wir verwenden kein warmes und buntes Frontallicht wie sonst üblich im Theater, sondern beschränken uns auf einzelne, teils mobile Lichtquellen, mit denen eine spärliche, partielle Beleuchtung möglich wird, die die Dunkelheit und Kälte des Gefängnisses und ein Gefühl der Enge und Freudlosigkeit vermittelt. Hinzu erzeugen wir mittels Lichttechnik Silhouetten und Schatten, ein Ausdruck der Selbstentfremdung der Gefangenen, sich fremd werden, nur noch ein Schatten seiner selbst sein.

Der Abend am 14. Februar 2025 wird nicht nur einen Blick auf die Ereignisse jener Zeit werfen, sondern auch die Kraft der Kunst als Mittel zur Überwindung von Schmerz, zur Bewahrung der Menschlichkeit und zum Widerstand gegen totalitäre Regime aufzeigen. Es ist eine einzigartige Gelegenheit, über die Bedeutung der Erinnerung und das Verständnis der Vergangenheit durch die Linse der Kunst nachzudenken. In diesem Kontext ist bis zum 2. März im Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis auch die Fotoausstellung "Frauen von Hoheneck" zu sehen, die die Schicksale von Frauen dokumentiert, die Opfer brutaler Repressionen in einem der bekanntesten Gefängniskomplexe der DDR wurden. Weitere Informationen und eine Anmeldung sind auf der Website des Lern- und Gedenkorts Kaßberg-Gefängnis erhältlich.



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