Grenzenloser Ehrgeiz

Kino-Kritik "Napoleon" Oscar-Preisträger Joaquin Phoenix gibt als Napoleon alles. Ridley Scotts Biopic über den Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts wirkenden französischen Machthaber kriegt die schier überlebensgroße Figur aber trotzdem nur bedingt zu fassen.

2023 ließ Steven Spielberg bei der Berlinale mit der Information aufhorchen, dass er Stanley Kubricks legendäres, nie realisiertes Napoleon-Projekt vollenden wolle. Basierend auf einem bereits existierenden Drehbuch und unzähligen Rechercheunterlagen soll dabei jedoch, anders als ursprünglich geplant, kein Leinwandepos herauskommen. Vielmehr schwebt dem Regiestar eine aufwendige Serie vor, die das Leben und Wirken des französischen Feldherrn und Autokraten bebildert.

Genau dieser Ansatz könnte der richtige sein, wie der Blick auf Ridley Scotts nun startende Filmbiografie beweist. Napoleon, einer der wohl schillerndsten historischen Figuren überhaupt, wird die gleichnamige Apple-Produktion in ihrer 158-minütigen Kinofassung jedenfalls nur schwer gerecht. Möglicherweise schafft ein angeblich viereinhalb Stunden langer Director's Cut etwas Abhilfe. Erscheinen soll dieser aber erst irgendwann nach dem Streaming-Start bei Apple TV+.

Scotts neue Regiearbeit beginnt in den Wirren der Französischen Revolution, in denen sich der Korse Napoleon Bonaparte (Joaquin Phoenix) bereits als ambitionierter Militärstratege in Stellung bringt. Mit der Befreiung der von Royalisten und britischen Kräften belagerten Hafenstadt Toulon im Dezember 1793 erwirbt er sich erste größere Verdienste und erhält nur wenige Jahre später das Kommando über die Feldzüge nach Italien und Ägypten. 1804 folgt dann der endgültige Griff nach der Macht: In Notre Dame krönt sich Napoleon selbst zum Kaiser der Franzosen. Zu diesem Zeitpunkt ist Joséphine de Beauharnais (Vanessa Kirby) schon länger als Gattin an seiner Seite. Dass ihrer Ehe kein Kind entspringen will, sorgt allerdings immer häufiger für Missstimmungen.

Phoenix in seinem Element

Zweifellos liefert Joaquin Phoenix, der für seine Interpretation des Jokers 2020 mit einem Oscar ausgezeichnet wurde, auch in der Rolle Napoleons eindrucksvoll ab. Einmal mehr taucht er in eine schwierige, unberechenbare Figur ein und verleiht ihr ein Charisma, das oft alles andere überstrahlt. Pokerface, wilde Entschlossenheit, kindischer Trotz und alberne Lüsternheit - Phoenix bringt viele unterschiedliche Facetten zum Vorschein und zieht das Publikum damit in seinen Bann.

Gleichzeitig wirkt die Zeichnung des Titelhelden dennoch etwas skizzenhaft. Was ihn in entscheidenden historischen Momenten antreibt, wird nicht immer klar. Unterentwickelt fühlt sich vor allem die Beziehung zu seiner Ehefrau Joséphine an, die er einerseits für seine Machtinteressen opfert, ohne die er andererseits aber nicht derart hätte reüssieren können. Das zumindest wird im Dialog und in ihrem Briefaustausch behauptet. Handfeste Belege bleibt die Kinofassung jedoch schuldig. Zu wenig Raum bekommt Joséphine darin gewährt.

Sprunghaft erzählt

Dass sich "Napoleon" an seinem Thema, an seinem Titelantihelden etwas verhebt, zeigt besonders der Umgang mit den komplexen politisch-sozialen Hintergründen. In einem irrwitzigen Tempo springt das Biopic teilweise von einer Station zur nächsten und streift die Motivationen der Handelnden bloß im Vorbeigehen. Namen und Positionen mancher historischer Persönlichkeiten tauchen kurz im Bild auf. Bei anderen verzichten die Macher hingegen - warum auch immer - auf dieses Orientierungsmittel. Überhaupt haben wichtige Nebenfiguren wie der russische Zar Alexander I. (Edouard Philipponnat) oder Napoleons Bruder Lucien (Matthew Needham) wenig Profil, wachsen nie über die Funktion der Stichwortgeber hinaus.

Die Schwächen der Leinwandversion treten offen zutage. Als gescheitertes Projekt kann man den Film jedoch nicht verbuchen. Dafür beweist Ridley Scott im Zusammenspiel mit seiner Crew einfach zu viel handwerkliches Geschick und atmosphärisches Gespür. Ein ordentlicher Batzen des üppigen Budgets ist in das prächtige Kostüm- und Szenenbild geflossen, das die Handlungszeit glaubhaft zum Leben erweckt. Die Aufnahmen von Kameramann Dariusz Wolski sind sorgsam komponiert und erzeugen eine enorme Wucht. In einer Zeit, da in Filmen fast nur noch digitale Schlachten stattfinden, sind die erdigen Kampfsequenzen in "Napoleon" durchaus beeindruckend. Hier hat endlich mal wieder ein Regisseur in der Verantwortung gestanden, der ganz genau weiß, wie man die rohe Gewalt des Krieges, das Aufeinanderprallen emotional aufgepeitschter Soldaten in den Kinosaal transportiert.

Die starken Schauwerte rufen eigentlich danach, das Epos auf der großen Leinwand zu schauen. Wer allerdings einen runderen, erzählerisch reichhaltigeren Film sehen möchte, sollte vielleicht besser auf die deutlich längere Streaming-Fassung warten. Sofern Scott dort Lücken ausfüllt und die Charaktere vielschichtiger zeichnet. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen!

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