"Verwahrt" statt betreut? Wie ernst ist die Lage unserer Kita-Kinder?

Betreuung Laut Bertelsmann Stiftung benötigt Sachsen 20.800 zusätzliche Fachkräfte - Reaktionen von "völlig überzogen" bis Kollaps-Befürchtungen

Ein aktuelles Ländermonitoring sorgt in Sachsen derzeit für erhitzte Gemüter. Die Bertelsmann Stiftung prognostiziert darin für das kommende Jahr bundesweit einen eklatanten Mangel an Kita-Plätzen. Sachsen könne seinen Bedarf zwar decken, doch die Personalausstattung sei laut Studie nicht kindgerecht. Sachsens Kultusminister hält dagegen, die Gewerkschaft ver.di sieht Befürchtungen dagegen bestätigt.

Der Osten kommt vergleichsweise gut weg

Gemessen an den Betreuungswünschen fehlen laut Bertelsmann im kommenden Jahr voraussichtlich bis zu 383.600 Plätze bundesweit: 362.400 im Westen und 21.200 im Osten. Das geht aus den neuen Berechnungen für das aktuelle Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme der Bertelsmann Stiftung hervor. Doch es fehle nicht nur an Plätzen, sondern häufig auch an einer kindgerechten Personalausstattung, gerade in Ostdeutschland. Beispiel Sachsen: Das Bundesland habe zwar genügend Kita-Plätze, um den 2023 bestehenden Betreuungsbedarf der Eltern von rund 184.000 Plätzen zu erfüllen. 93 Prozent der Kita-Kinder würden hier jedoch in Gruppen betreut, deren Personalausstattung nicht kindgerecht ist. "Um Personalschlüssel zu erreichen, die wissenschaftlichen Empfehlungen entsprechen, müssten zusätzlich 20.800 Fachkräfte eingestellt werden", sagt Kathrin Bock-Famulla, Expertin für frühkindliche Bildung der Bertelsmann Stiftung. Dadurch würden zusätzliche Personalkosten von rund einer Milliarde Euro pro Jahr entstehen.

"An der Realität vorbei"

Als "völlig überzogen und an der Realität vorbei", beschreibt Sachsens Kultusminister Christian Piwarz die Forderungen. Kindgerecht wäre demnach ein Personalschlüssel von eins zu drei zwischen Fachkraft und Krippenkindern. "Sicherlich wünschen wir uns alle die optimale Betreuung gerade unserer Kleinsten. Aber es muss in der Realität auch umsetzbar sein", erklärt der Minister. So würde schon eine Verbesserung des Personalschlüssels von 1:5 auf 1:4 in der Krippe etwa 2.500 neue Vollzeitstellen bedeuten. Das entspricht etwa 3.125 neuen Erzieherinnen und Erziehern, die der Arbeitsmarkt nicht hergibt. "Die zusätzlichen Personalvorstellungen sind angesichts des allgemeinen Fachkräftemangels in ganz Deutschland illusorisch. Wir sind in Sachsen froh, dass wir so viele Erzieherinnen und Erzieher ausbilden, dass wir unseren Bedarf decken können. Ein Mehr an Fachkräften ist wünschenswert, muss aber auch auf dem Arbeitsmarkt realisiert werden können. Bertelsmann soll aufhören, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen", macht Piwarz deutlich. Zudem verweist Christina Piwarz auf das Angebot der Kindertagespflege in Sachsen, wo Eltern sich für kleinere Betreuungsgruppen entscheiden können

Kritik: Qualität des Personals spielt in Studie keine Rolle

Zugleich wiederholte der Minister seine Kritik daran, dass die Bildungschancen allein am Betreuungsschlüssel festgemacht werden, "was der besonderen Situation in Ostdeutschland in keiner Weise gerecht wird." So sei bei der Betreuungsqualität auch die Ausbildung des Kita-Personals mit zu betrachten. Der Freistaat Sachsen liegt mit 59 Prozent akademisch erweiterten Teams an der Spitze vor Hamburg (52 Prozent) sowie Bremen und Hessen (45 bzw. 44 Prozent). Auch hat in Sachsen mit 79 Prozent mehr Kita-Personal einen fachlich einschlägigen Fachschulabschluss als im Bundesvergleich mit 64 Prozent.

Dienstleistungsgewerkschaft sieht Befürchtungen bestätigt

Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) sieht sich dagegen bestätigt und das Kita-System gar vor einem Kollaps. "In Sachsen kann erfreulicherweise der Betreuungsbedarf größtenteils gedeckt werden. Es bedarf aber eines wesentlichen Qualitätsausbaus. Der ohnehin schon nicht kindgerecht angesetzte Personalschlüssel von 5,3 für unter Dreijährige führt letztendlich durch Krankheit, Fortbildung, Urlaub sowie Vor- und Nachbereitungszeiten zu einer realistischen Fachkraft-Kind-Relation von einer Fachkraft zu 8,8 Kindern und mehr", kritisiert Daniel Herold, Bezirksgeschäftsführer von ver.di Sachsen-West-Ost-Süd. Ein hoher Krankenstand, der auch auf die hohe Arbeitsbelastung zurückzuführen sei, würde zu einer permanenten Überlastung der Beschäftigten führen.

Kinder häufig nur noch "verwahrt"?

Der ver.di Bezirksgeschäftsführer macht darauf aufmerksam, dass die Fachkräfte immer wieder darauf hinweisen, dass sie ihrem Bildungsanspruch nicht mehr gerecht werden und die Kinder häufig nur noch "verwahren". Der Druck auf Erzieherinnen und Erzieher, auf alle Kinder gleich gut eingehen zu können und keines durch Unachtsamkeit zu gefährden, sei enorm groß. Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen würden zunehmen. Im Rahmen einer Petition fordert die Gewerkschaft deshalb den sächsischen Landtag auf, die institutionelle Kindswohlgefährdung in sächsischen Kitas und Horten zu stoppen - unter anderem durch einen kindgerechten Personalschlüssel, der auch Urlaub, Krankheit, Fortbildung, Teamsitzungen und Elterngespräche berücksichtigt.

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