Wer braucht noch eine Führungskraft?

Anikas Reportage: Reportage Wie realistisch ist Arbeiten ohne Hierarchie wirklich?

Anikas Reportage:
Dresden. 

"Nur glückliche Mitarbeiter sind auch gute Mitarbeiter" besagt ein altes deutsches Sprichwort. Doch wie macht man die eigenen Mitarbeiter glücklicher? Der Arbeitsmarkt unterliegt einem ständigen Wandel und seit Jahren gibt es Ansätze, innovative Ideen und Feldstudien, wie beispielsweise den Sechs-Stunden-Tag in Schweden (2003-2017), um fairere Bedingungen für Arbeitnehmer zu schaffen. Ein etwas neuerer Ansatz, den vor allem viele Start-Ups verfolgen und der auch in Deutschland immer populärer wird, ist das Konzept der Holakratie - also dem Umdenken von alten Firmenstrukturen zum neuen hierarchielosen Arbeiten.

Was ist Holakratie?

Doch funktioniert das überhaupt - Arbeiten ohne Chef, ohne Führungsebene, die meine Arbeit "kontrolliert" und mir Anweisungen erteilt? Und überhaupt: Ist Holakratie etwas für jedes Unternehmen und wie sieht das Konzept in der Praxis umgesetzt aus? Diese Fragen kommen mir in den Kopf, als ich das erste Mal den Begriff Holakratie mit seiner Bedeutung lese. Holakratie kommt aus dem Griechischen und wird aus holos, was "vollständig" bedeutet, und kratía, also Herrschaft, zusammengesetzt. Vollständige Herrschaft - also jeder darf mit "herrschen". Der US-amerikanische Unternehmer Brian Robertson gilt als Erfinder der "Holocracy", wie sie im Englischen heißt. Ich, die seit vier Jahren in einem Unternehmen mit Hierarchie arbeitet, kann mir nicht so recht vorstellen, wie Holakratie funktionieren soll. Deshalb mache ich mich auf die Suche nach sächsischen Firmen, die holakratisch arbeiten und werde fündig. Die IT-Unternehmen Ostec und Netcentric Deutschland laden mich zum virtuellen Gespräch ein, um mir von ihren Erfahrungen im hierarchielosen Arbeiten zu berichten.

Ostec ist eine Firma mit 25 Mitarbeitern und Sitz in Dresden, die seit 1999 aktiv ist. Die Dienstleistungsfirma entwickelt maßgeschneiderte und komplexe Lösungen im Bereich Web und E-Commerce. Die Geschäftsführer René Mittag und Stefan Queißer hatten über die Jahre hin das Bedürfnis entwickelt, die Mitarbeiter noch mehr im Unternehmen mitbestimmen zu lassen und haben sich 2017 für die Einführung des Konzeptes 'Holacracy' entschieden. In einem mehrtägigen Firmenworkshop im Grünen wurden das Konzept allen Mitarbeitern vorgestellt und einstimmig angenommen. Seitdem arbeitet Ostec holakratisch. Mit Laura Behrendt (HR, Recruiting, Work Environment), Isabell Lippert (Business Development, Requirements Engineer) und Carolin Schilde (Ressource Management, Projekt Management CONFGAMES ) bin ich zum Gespräch verabredet. Ich bin erstaunt, dass mir gleich drei Mitarbeiterinnen das Thema näherbringen wollen und sich Zeit dafür nehmen. Die Drei erklären mir erst einmal die Grundstrukturen der Holakratie, von denen ich bis dato noch nie etwas gehört habe.

Die Holacracy Constitution

Es gibt die Holacracy Constitution, in der die Prinzipien und Regeln für den Aufbau eines holakratischen Unternehmens enthalten sind. Sie gibt sozusagen den Leitfaden mit den Strukturen vor: Die Circles (Kreise), Roles (Rollen) und die Accountabilities (Verantwortlichkeiten). Das ganze Unternehmen ist in einem großen Kreis mit vielen kleinen Kreisen strukturiert, in denen die ganzen Arbeitsfelder (vergleichbar mit Abteilungen) vorhanden sind. Mir wird eine Grafik gezeigt, die das demonstrieren soll. (Siehe Bild 2) Ich sehe einen großen Kreis namens Development, einen mit Finance, einen mit Human Resources und einige mehr. In diesen sind viele kleine Kreise mit unterschiedlichen Namen und Farben enthalten. Diese stellen die verschiedenen Rollen dar, die es in der Holakratie gibt. Ein Mitarbeiter füllt mindestens eine Rolle aus (eher mehr) und hat durch die Rolle Aufgaben, wie beispielsweise Controlling, Buchhaltung, Vertrieb, etc. Diesen Rollen sind Purposes (Zwecke) und Accountabilities (Verantwortlichkeiten) zugeschrieben, also was von dieser Rolle erwartet und was von ihr erzielt wird, denn in der Holakratie ist alles zweckgebunden. "Die Personen energetisieren eine Rolle. Das macht der Mitarbeiter mit dem meisten Know-How in diesem Bereich", erklärt mir Frau Schilde. Immer wieder fällt mir auf, dass die Holakratie viele englische Fachbegriffe besitzt und eigene Floskeln, an die ich mich erst gewöhnen muss. Es gibt auch Rollen außerhalb der Kreise, wie den Lead Link, den Facilitator (Moderator eines Meetings) und den Secretary (Protokollant in Meetings).

Neben den Roles gibt es auch eine klare Meetingstruktur. Es gibt Tactical Meetings, welche in den jeweiligen zugehörigen Kreisen regelmäßig (z.B. wöchentlich) abgehalten werden und aktuelle Themen betreffen, und es gibt Gonvernance Meetings, die seltener stattfinden und bei denen auch neue benötigte Rollen geschaffen oder Rollen gar abgeschafft werden. Frau Lippert fasst zusammen: "Die Meetings sind sehr ziel- und ergebnisorientiert und haben auch klare Strukturen." Das klingt alles logisch für mich. Organisiert wird der Aufbau von vielen Firmen durch Onlineplattformen wie Glass Frog. Sie bieten Unternehmen die Möglichkeit, eine Übersicht über alle Rollen, Meetings, Ziele und Projekte zu erstellen. Die Mitarbeiter können untereinander den Stand der Arbeit transparent bis zu einem gewissen Grad einsehen. 

Sind wirklich alle gleichgestellt?

"Bedeutet es automatisch, wenn alle auf einer gleichen Ebene miteinander arbeiten, dass auch die Gehälter alle gleich sind", möchte ich wissen und erfahre, dass die Holakratie nichts über Gehälter aussagt. Jedoch hat Ostec beispielsweise mit den Mitarbeitern ein System erarbeitet, bei dem es verschiedene Kategorien wie Ausbildung, Kompetenz, Erfahrung, Kinderplanung, Betriebszugehörigkeit in Jahren, etc. gibt und danach berechnet sich das Gehalt. Das System wurde in der Firma einstimmig von allen Mitarbeitern angenommen. Das finde ich sehr gut und gerecht, sogar, dass Kinderplanung befürwortet wird. Das ist übrigens nicht in jedem holakratischen Unternehmen so.

Ich treffe eine weitere Person, die mir ihre Erfahrungen mit Holakratie erzählen mag. Sven Schubert, Projektmanager von Netcentric Deutschlandvom Standort Dresden. Netcentric Deutschland ist eine Gesellschaft von "Netcentric - A Cognizant Digital Business" mit 650 Mitarbeitern an primär 16 Standorten in Europa und einem Standort in Indien. Netcentric ist eine IT-Firma, die sich mit Softwareentwicklung, basierend auf der Adobe Experience Cloud, für digitale Marketingprojekte beschäftigt und 2012 gegründet wurde. Herr Schubert ist sehr offen und bietet mir gleich das Du an. Er selbst nimmt 34 der oben beschrieben Rollen bei Netcentric wahr. "Ist das nicht ganz schön viel", frage ich ihn. Er lacht. "Das klingt erst einmal total erschlagend und vielleicht sogar unglaubwürdig. Aber natürlich sind viele so genannte Circle Core Roles dabei. So nehme ich an Circle Meetings als verschiedene Rollen teil und moderiere das Meeting beispielsweise in meiner Rolle als Facilitator." Er erzählt mir, dass das Unternehmen nach seiner Gründung relativ schnell anwuchs und sich die damaligen Geschäftsführer Gedanken über die Strukturen machen mussten. "Eine klassische hierarchische Organisationsform sollte es auf gar keinen Fall sein und so orientierten sich die Gründer an den zu diesem Zeitpunkt spannenden neuen Modellen und kamen dabei auf Holacracy", erzählt Sven.

Was passiert mit dem Geschäftsführer?

Auch bei Netcentric wird nach der Holacracy Constitution gearbeitet. Ich erkenne Parallelen zur Firma Ostec. Sven erläutert den Aufbau: "Der "oberste" Circle ist der GCC (General Company Circle). Darin enthalten sind Rollen wie beispielsweise der CEO oder der CTO, aber auch Sub Circles wie Delivery, Finance, Marketing, Studios. Diese Circle wiederum beinhalten weitere Rollen und Sub Circles. Damit entsteht eine Hierarchie von Circles im Sinne von Themen, nicht von Personen." Das finde ich spannend; es gibt also doch eine Hierarchie, aber eben nicht, dass eine Rolle wichtiger ist als eine andere, sondern nur zur Strukturierung der Abteilungen. "Das heißt der Chef übernimmt auch ganz normal, wie alle anderen, eine Rolle", erkundige ich mich. Sven bestätigt das. Meistens gibt es die Rolle CEO, da in Deutschland Gesetze herrschen, dass nur der Geschäftsführer Unterschriften leisten kann. Die Aufgabe der Rolle CEO ist dann, das Unternehmen nach außen hin zu vertreten. Das bestätigen mir auch die Mitarbeiterinnen von Ostec. Der Geschäftsführer kann aber auch weitere Rollen annehmen, wie alle anderen Mitarbeiter auch.

"Is it worth a try or does it harm the company?"

Mich interessieren außerdem die Nachteile des Ganzen! Nachteile sind auf jeden Fall die Schwierigkeit in den Strukturen durchzublicken und der Aufwand, es im Unternehmen einzuführen. Ansonsten erläutern mir meine Gesprächspartner nur positive Aspekte. "Holakratie ist sehr transparent, wir geben regelmäßige Statusmeldungen und die Kollegen und teilweise auch Kunden können über Glass Frog den Status unserer Arbeit abchecken. Das ist für viele effektiv und toll, andere sehen die Transparenz vielleicht als Nachteil", sagt Frau Behrendt. "Jeder weiß, woran er beim anderen ist und es herrscht weniger Druck und Kontrolle, als bei anderen Unternehmen", fügt Frau Schilde hinzu. Sven von Netcentric lobt die Geschwindigkeit, mit der man Veränderungen im Unternehmen erzielen kann. "Das, was in klassischen Organisationsformen oft lange Change-Prozesse sind, ist bei uns ein knackiges Governance Proposal. Die dahinter stehende Frage ist immer Is it worth a try or does it harm the company? Weitere Vorteile sind die Freiheiten und Chancen für jeden, sich auch in anderen Themen einzubringen und auszuprobieren, wenn man das möchte. Ein Chef muss dafür nicht gefragt werden."

Fazit

Das klingt alles sehr interessant, aber jetzt Butter bei die Fische… Kann wirklich jedes Unternehmen holakratisch arbeiten? Ja, aber dafür muss es verschiedene Voraussetzungen erfüllen. Ich höre heraus, dass Holakratie auf sehr selbstständigem Arbeiten aufbaut. Menschen, die eher jemanden brauchen, der ihnen sagt, was sie zu tun haben, für die ist Holakratie eher ungeeignet. Vertrauen ist außerdem ein großes Stichwort. Alles baut auf Vertrauen auf. Wem Vertrauen schwerfällt, für den wird es auch schwierig, das holakratische Arbeiten anzunehmen. 

Zusammenfassend ist Holakratie nach meinen Eindrücken ein sehr modernes Arbeitssystem auf Augenhöhe, was ich selbst gern ausprobieren würde. Es wirkt effizient und sehr gut organisiert. An einige Begrifflichkeiten muss man sich definitiv erst gewöhnen, da es doch sehr vom Englischen geprägt ist. Es gibt, wie mir bestätigt wurde, viel weniger Druck als in den meisten hierarchischen Firmen. Zuverlässiges und selbstständiges Arbeiten sind Schlüsselkriterien der Holakratie. Nur mit der Hingabe aller Kollegen kann so ein System bestehen, was auf Transparenz, Zweckgebundenheit und Vertrauen aufbaut. Gerade heutzutage müssen Firmen umdenken und sich hinterfragen, bevor die Mitarbeiter zu "besseren" Arbeitgebern wechseln. Holakratie bietet sehr viele Chancen für die Zukunft. Wenn ich die Frage beantworten muss, ob die Mitarbeiter von holakratischen Firmen glücklicher sind, dann kann ich selbstbewusst sagen, dass die Gesichter meiner Interviewpartner auf jeden Fall Zufriedenheit und Ausgeglichenheit ausstrahlen.

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