Graupel, verschlossene Klause und ein herzensguter Fremder: Pilgerreise am Limit

Einblick Wie Madlen und Nadine vom Karlo Laden Mittweida sich durch 170 Kilometer kämpfen

Mittweida/ . 

"Um auch persönlich zu wachsen musst du jedes Jahr etwas tun, was du noch nie getan hast." Das war die Motivation von Madlen Seigerschmidt aus dem Mittweidaer Karlo-Laden. Und so machte sie sich mit ihrer Schwester Nadine auf eine 7-tägige Pilgerreise, die sie an ihre Grenze brachte und darüber hinaus... Ein Einblick in Ihr Pilger-Tagebuch: 

Tag 1: Koblenz - Alken oder Start des Mosel Camino, Mücken und ein Sturz

Die Zugfahrt zum Startpunkt verlief unspektakulär, nur eine Frage beschäftigte sie: an einen schmatzenden Bahnmitfahrer das Bonbon wegnehmen? Noch ahnte ich nicht, das dies das kleinste meiner Probleme sein wird in dieser Woche. "Es war eine spontane Entscheidung, meine sieben tägige Wanderung von Koblenz nach Trier anzutreten. Ohne spezielles Training, nur mit meinem Rucksack und der Hoffnung auf eine gute Wanderung von 170 Kilometern. Nach einem ausgiebigen Frühstück startet kurz nach 9 unsere 7-tägige Tour von Koblenz nach Trier. Und noch bin ich guter Dinge. Gemeinsam mit meiner Schwester Nadine, die im entfernten Reutlingen wohnt, laufen wir den Mosel Camino. Bereits nach 100 Metern Steiltreppe komme ich aus der Puste, meine Schwester schon oben angekommen, wartet bereits wie ein General auf mich. Ich werde mich schon noch einlaufen. Irgendwann sind wir glücklicherweise oben und am Rapsfeld lang ist es etwas gemütlicher. Und zwar genauso lange, bis meine Schwester mit den Wanderstöcken irgendwelche Mücken verjagen möchte. Denn aus unerklärlichen Gründen verfangen sich die Stöcke mit meinen Beinen. Ich falle der Länge nach hin. Da ich diese jedoch in den Händen hatte, konnte ich mich auch schlecht abstützen und der 10 Kilo schwere Rucksack schob mich noch ein Stück weiter über den Schotter. Begleitet wurde das ganze von Vogelgezwitscher und dem Lachen meiner Schwester.

Aber dann erreichten wir ohne weitere Zwischenfälle unsere Pension. Wir dachten, wir sind zurück in den 50 -, 60iger Jahren. Leider war es auch nicht sehr sauber, aber ein wahres Pilgerherz kann das aushalten. Zu Abend wollten wir dann aber woanders essen. Gelandet sind wir bei zwei Indern, die ein italienisches Restaurant betrieben. Mir kam das gleich ein bisschen spanisch vor, auch dass wir die einzigen Gäste waren, meine Schwester warf mir Schubladendenken vor, allerdings sollte ich bedauerlicherweise Recht behalten. Aber auf dem Rückweg zum Hotel zur Traube kehrten wir noch in eine Weinstube ein. Also noch ein schöner Abschluss.

Tag 2: Alken - Kloster Engelport  oder Schneckentempo,  Apotheke und ein Kloster für viel Geld

Auch Tag 2 beginnt mit schönem Wetter und wieder geht es Berg auf und Berg ab. Und weil ich ja weder geübt oder mich anderweitig vorbereitet habe, kamen kurz nach der ersten Etappe des Tages unsägliche Knieschmerzen dazu. So ging es im Schneckentempo weiter bis zur nächsten Apotheke. Ich fragte nach einem Schmerzmittel und als die nette Apothekerin anfing aufzuzählen, unterbrach ich kurz und sagte: geben Sie mir einfach das stärkste, was sie haben und bitte ohne Verpackung, der Rucksack ist ja schon so schwer. Sie schob mir die Salbe hin mit Beipackzettel, mein Blick genügte, denn auch diesen wollte ich nicht mitnehmen. Nach der Knieversorgung und der Einnahme einer Ibuprofen ging es weiter. Nicht schnell und jammernd, aber immerhin, es ging weiter. Und kurz vor 18 Uhr erreichten wir unser heutiges Ziel: Das Kloster Engelport. Gleich wurden uns 160 Euro abgenommen für die Übernachtung und Verköstigung. 

Der Weg zum Speisesaal war belegt mit einem riesigen Hund, wir stiegen einfach darüber, für Angst fehlte mir auch ganz einfach die Kraft. Die Verköstigung bestand aus trockenen Nudeln mit Zwiebeln und noch trockeneren Parmesan. Erträglich machte es im Grunde nur der Klosterwein zum Herunterspülen. Aus Kostengründen wurde auch noch das warme Wasser abgestellt oder zum Abhärten, wir werden es wohl nicht mehr erfahren. Schlafen werde ich übrigens die Woche wie ein Stein. Am frühen Morgen schlichen wir in den Klostergarten auf der Suche nach W-LAN, was wir leider nicht fanden, dafür kam, genau als die Tür ins Schloss fiel, der riesige Hund aus der Hütte auf uns zu. Hektisch schlossen wir die Tür auf und flüchteten nach innen, frühstückten unser karges Mahl und verließen das Kloster.

Tag 3: Kloster Engelport - Bullay oder Durchkriechen, umgestürzte Bäume und 600 Höhenmeter

"Der Weg ging ziemlich schwierig los, überall umgestürzte Bäume wo man darüber oder unten durchkriechen musste und wieder werden wir heute gut 600 Höhenmeter zurücklegen und 25 Kilometer. Mit dabei der 10 Kilo schwerer Rucksack und die Knieschmerzen. Unterwegs gab es auch tolle Landschaft, ich hatte aber leider nur Schmerzen. Jammern durfte ich heute auch nicht so viel, das Nervenkostüm meiner Schwester war schon stark aufgebraucht. Also hielt ich tapfer durch. Zum Mittag gab es wie fast jeden Tag einen Haferriegel. Froh über die damit verbundene kurze Pause war ich aber auch über diesen .

Vorgestellt hatte ich mir meine Pilgerreise übrigens so: Wir wandern gemütlich und vor allem ohne Schmerzen durch Wälder, Wiesen und Dörfer und kehren ab und zu ein bei Kaffee oder Wein. Die Realität sah etwas anders aus. Das Einzige, was mich durchhalten ließ, die Tatsache, dass es nur 160 km sein werden und Abends meistens was Leckeres gab. An diesem Tag legten wir 39.000 Schritte zurück. Und da es ab Mittag immer wieder regnete und irgendwann die Schuhe und richtig auch die Socken nass waren, nenne ich ab heute noch 2 Blasen mein Eigen. Und ein Schild, welches unseren Weg kreuzte, mit der Aufschrift: "manchmal ist das einzige, was man machen kann: WEITER" Mit diesen Gedanken schliefen wir in unserem urigen Zimmer ein."

Tag 4: Bullay - Traben Trabach oder die vergessliche Omi und Hape Kerkeling bei Graupelschauer

Heute erwartet uns die Königsetappe. Aber erst mal frühstücken, dann sehen wir weiter. Das Frühstück total niedlich mit lauter kleinen Schüsselchen und Schälchen, serviert von einer etwas schrulligen, vergesslichen Omi. (Ein Beispiel dafür: Die Leute am Nachbartisch hatten am Abend gesagt, dass sie Vegetarier sind, auf deren Tisch am Morgen stand dann aber was ganz anderes). Unseren Pilgerausweis stempelte dann der Sohn und deren Sohn ab (ein Hape Kerkeling Verschnitt zum Schießen komisch und total sympathisch.) Denn Omi war sich sicher, das gestern schon mit uns besprochen zu haben.
An diesem Tag geht es 3-mal den Berg hoch und richtig 3-mal wieder runter. Begleitet wurden wir von Regen und Graupelschauern. Und mein nicht ende wollendes Gewinsel aber ich fand mich heute ausgesprochen tapfer, meiner Schwester ihr Nervenkostüm allerdings immer dünner werdend, ignorierte ich gekonnt. Und irgendwann gegen 17 Uhr erreichten wir unsere Pension in Traben Trabach. Glücklich die wohl schlimmste Strecke geschafft zu haben, rückten wir Abends beim Inder ein und ließen es uns so richtig gut gehen.
Das das Allerschlimmste noch vor uns lag, ahnte an diesem schönen Abend niemand.

Tag 5: Traben Trabach - Klausen oder hemmungsloses Weinen, eine verschlossene Klause und ein Herzensmensch

Heute bin ich das erste Mal an meine psychischen Grenzen gekommen und habe hemmungslos geweint. Aber von Anfang an: Zum Frühstück scheint zwar nicht die Sonne, aber wir sind guter Dinge. Unser Ziel an diesem Tag Klausen. Nach circa fünf vergeblichen Anrufen erreiche ich endlich jemanden in der Beherbergung. Auf meine Übernachtungsfrage werde ich darauf verwiesen eine Mail zu schicken, die dann weitergeleitet wird. Also marschierten wir voran. Vorn wie immer meine Schwester und irgendwann kam ich hinterher. Die Schmerzen wurden nun zunehmend schlimmer. Ich konnte dem ganzen nur mit Schmerzmittel und viel Selbstmitleid entgegenwirken. Mittlerweile kannte ich auch alle Gangarten, leider linderte keine davon meine Schmerzen. Doch so konnte ich aber zumindest für Heiterkeit bei meiner Schwester und anderen Vorbeikommenden sorgen. Und auch die Pausen, vermutlich bedingt durch meine langsame Geschwindigkeit, sind bedauerlicherweise auch viel zu kurz. Unterwegs gab es eine tolle Landschaft, viel Schlamm und auch (wie immer) ab mittags nasse Füße. Nach 37.000 Schritten kam es zum Eklat: In der Klause, in der wir übernachten wollten, ist keiner da. Die Notrufnummer war nicht besetzt.
Aussage des Hotels gegenüber: "Tja schlecht geplant, können wir auch nicht helfen." Der nächste Bus zum nächsten Ort am nächsten Morgen um 7:30 Uhr. Weitere Unterkünfte? Gleich 0! Konditionen für diesen Tag jedoch bereits restlos aufgebraucht. Da saßen wir jetzt vor der Klause. Und guckten blöd. Ein junger Mann kam vorbei. Er sah uns wohl sofort an, was los war. Er wollte uns helfen und so hegten wir wieder Hoffnung. Wir durften in der Klause warten, nach circa 45 Minuten kam er wieder, ganz zerknirscht, der Bürgermeister hätte ihn angepfiffen. Wir mussten die Klause verlassen, es täte ihm sehr leid. Fassungslos standen wir wieder vor der Tür. Mittlerweile war es nach 18 Uhr. Der junge Mann fragte, ob er uns irgendwo hinfahren könne?
Wir googelten und fanden schließlich in acht Kilometer Entfernung ein Hotel was noch freie Plätze hatte. Er fuhr uns da hin und berichtete uns auf der Fahrt von seiner eigenen Pilgerreise. Als er eines Tages nicht mehr konnte und in seiner Herberge anrief, der Herbergsvater zu ihm sagte, bleib sitzen ich hole Dich. "Ich weiß genau wie Sie sich fühlen", sagte er uns... da muss man doch helfen. In dem Moment musste ich einfach weinen, aus Dankbarkeit. An diesem Abend bekamen wir das tollste Zimmer, das beste Essen. Das Allerbeste an diesem Tag, ich habe einen großzügigen Menschen kennengelernt, der uns selbstlos half. An dieser Stelle: Danke, Du lieber, lieber Mensch.

Tag 6: Dornmagen - Schweich oder Dauerregen, Krämpfe und Busstreik

Zum Frühstück, welches fantastisch war, streikte ich. Denn heute gab es Dauerregen. Zu den Schmerzen kamen noch Krämpfe hinzu. Heute würde ich mindestens die Hälfte mit der Strecke mit dem Bus fahren! Und es war mir wirklich egal, ob das noch pilgern ist. Siegessicher liefen wir zum Bus. 9:36 Uhr sollte die Abfahrt sein. Pünktlich 9:20 waren wir da. Schon durchgeweicht. Bitterkalt -3 Grad- war es auch. Jetzt freute sich auch meine Schwester auf den Bus. Aber der kam nicht. Was kam, waren Zweifel: Wie viel Pech konnte denn ein einziger Mensch in nur einer Woche haben? Bei der Hotline - ging natürlich niemand ran. Über google erfuhren wir, das gestreikt wird. Meine Schwester erreichte als Erstes die Fassung wieder: "Also los - der Weg läuft sich nicht alleine". Also ging es die gesamte Strecke zu Fuß: Vornweg im Laufschritt meine Schwester, ich mit meinen Schmerzen und Blasen hinterher. Begleitet wurden wir den ganzen Tag von Dauerregen. Wir sanken teilweise knöcheltief im Schlamm ein. Wir durchliefen eine riesige Schafsherde - allen Haufen ausweichen? Unmöglich.
Die letzten drei Kilometer ging es nur noch im "Staksschritt". Das Jammern hatte ich mittlerweile auch eingestellt, es fehlte ganz einfach die Kraft. Aber auch an diesem vorletzten Tag kamen wir irgendwann an, ganz ohne Bus. In der Pension, ein Weingut, wurden uns sogar die Rucksäcke abgenommen und wir wurden sehr freundlich empfangen. Wir genossen ein sehr leckeres Abendessen und zwei richtig gute Gläser Wein. Ein toller Spruch begleitete uns ins Bett: Wenn's der Seele guttut, kann's der Leber nicht schaden."

Tag 7: Schweich - Trier oder "Endlich ankommen nach über 170 Kilometern

Der letzte Pilgertag verlief anstrengender als gedacht. Der einzige Unterschied: es gab nichts zum Mittag. Wir hatten nichts mehr, nicht mal einen Riegel. Und ich weigerte mich, auch nur 500 Meter Umweg zu gehen, um an einen zu kommen. Die letzten Kilometer liefen wir dann ziemlich ruhig und auch stumm nebeneinander her. Jeder hing seinen Gedanken nach. Heute würden wir in Trier ankommen. Es war schon noch unfassbar. Tatsächlich liefen wir gegen 16 Uhr ein. Glücklich und kaputt. Nach 171! gelaufenen Kilometern.

Tag 8:  Abreise oder das Auffallen des Zuges und die Lehre der Pilgerreise

Unsere gemeinsame Zeit ging zu Ende. Eine Station fuhren wir zusammen mit dem Zug. Dann sollten sich unsere Wege trennen. Allerdings fiel der Zug meiner Schwester durch Bauarbeiten aus. So musste sie noch weitere zwei Stunden mit mir weiterreisen. Meine Schwester war dann 16 Uhr und ich 19:30 zu Hause. Eine ereignisreiche Woche ging zu Ende. Mein Fazit: Man schafft mehr, als man kann. Aber, um diesen Weg oder auch jeden anderen etwas zu genießen, ist ein Training durchaus sinnvoll. Das hab ich gelernt. Und eine kleine leise Stimme begleitete mich an diesem Abend ins Bett: Auf den 700 kilometer langen Pilgerweg bereitest Du Dich besser vor... aber das wird eine andere Geschichte...

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