Eckart von Hirschhausen: "Das Ernährungssystem ist echt krank!"

Interview zu "Hirschhausen und die Abnehmspritze" Dr. Eckart von Hirschhausen beleuchtet in "Hirschhausen und die Abnehmspritze" und "Hirschhausen - Medizin von morgen" einmal mehr, was uns krank macht - und was uns wirklich gesund machen kann.

Dr. Eckart von Hirschhausen hat schon in diversen Dokus das Gesundheitssystem und seine Macken beleuchtet. Nun ist der 56-Jährige gleich an zwei aufeinander folgenden Abenden in der ARD auf Sendung: Am Montag, 8. April, um 20.15 Uhr, geht er in "Hirschhausen und die Abnehmspritze" dem Hype um Wegovy und Co. auf den Grund, und am Dienstag, 9. April, um 21.45 Uhr, nimmt er den Start der neuen Staffel der Krankenhausserie "Charité" zum Anlass, in "Hirschhausen - Medizin von morgen" neue Forschungsfelder zu beleuchten. Im Interview spricht der Arzt und Moderator unter anderem darüber, warum eine Zuckersteuer wirksamer für unser Essverhalten wäre als jedes Wundermittel.

teleschau: Die Deutschen werden immer dicker. Ist die Abnehmspritze die Lösung für all unsere Gewichtsprobleme?

Dr. Eckart von Hirschhausen: Klares Nein. Die Lösung wäre, gar nicht erst übergewichtig zu werden. Dafür müssten wir endlich Prävention und ein gesundes Leben im Alltag, in der Kita, in den Schulen, in den Kantinen ernst nehmen. Dummerweise kann man an Gesunden kein Geld verdienen. Überspitzt gesagt lassen wir die Menschen überall hochkalorischen Schrott essen, und dann verkaufen wir ihnen die Spritze oft auf Selbstzahlerbasis. Ein Milliardengeschäft. Wegovy und Ozempic sind keine Medikamente für gesunde Menschen, die ein paar Kilos verlieren wollen - das macht den Zugang zu wirksamen Therapien für Menschen mit Adipositas oder Typ-2-Diabetes noch schwerer. Es sind zum Teil lebensbedrohliche Fälschungen um Umlauf. Von Bestellungen über den Schwarzmarkt im Internet ist dringend abzuraten.

teleschau: Wem kann die Spritze helfen?

von Hirschhausen: Als erstes, allen die schon Diabetes haben, oder andere Folgeerkrankungen. Absurderweise nehmen viele die Spritze, die sie nicht bräuchten, und die sie brauchen, bekommen sie teilweise nicht. Es ist seit 20 Jahren klar, dass, wer einmal übergewichtig ist, es aus eigener Anstrengung nur in seltenen Ausnahmefällen schafft, dauerhaft abzunehmen. Das hat nichts mit "Charakterschwäche" zu tun, dahinter stecken Mechanismen, die für mich Merkmale einer Sucht haben. Der erste Schritt ist also, diesen absurden moralischen Druck auf die Betroffenen sein zu lassen. Denn durch gute Ratschläge und gesellschaftliche Verachtung sind die Menschen die letzten Jahrzehnte nicht leichter geworden, sondern schwerer. Daher ist die Art und Weise, wie die neuen Medikamente wirken, schon eine berechtigte Hoffnung für viele.

"Wirksamer als alles, was wir bislang hatten"

teleschau: Wie schafft es die Spritze, den Teufelskreis des Heißhungers zu durchbrechen?

von Hirschhausen: Die Medizin hat lange die Ursache für Fettsucht im Körper gesucht, dabei ist der entscheidende Schalter im Gehirn. Genau gesagt im Belohnungszentrum. Dort setzen die neuen Medikamente an. Sie imitieren einen natürlichen Signalweg, sie sagen also dem Hirn: "Du bist satt!" - Dieses Signal übernimmt normalerweise das Hormon Insulin, aber wenn wir zu lange zu viel essen, stumpft das Hirn ab, das Insulin wirkt nicht mehr. Die Spritze führt bei vielen zu einer Gewichtsreduktion von 15 Prozent und ist damit wirksamer als alles, was wir bislang hatten.

teleschau: Wo ist der Haken?

von Hirschhausen: Das alles wirkt nur, solange man die Medikamente nimmt. Sobald man sie absetzt, schlägt das Jo-Jo wieder zu. Und es gibt, wie immer, wenn etwas wirkt, auch Nebenwirkungen. Häufige sind Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Verstopfungen oder Durchfall. Patienten berichten von einem Gewöhnungseffekt, deshalb wird bei der Einführung der Hormontherapie langsam höher dosiert, so ist sie verträglicher. In selten Fällen kann es zu Bauchspeicheldrüsenentzündungen oder Gallensteinen kommen.

Selbstversuch mit alarmierendem Ergebnis

teleschau: Ein erschreckendes Kapitel im Film ist Ihr Selbstversuch, der zeigt, wie schnell wir von ungesunden Lebensmitteln abhängig werden...

von Hirschhausen: Ja, das war auch für mich sehr erschreckend! Ich habe eine Woche lang 1.500 Kilokalorien zusätzlich gegessen, lauter Schokoriegel, Chips und anderen Schleckerkram. Ich konnte das Zeug, von dem ich in meinem Leben weiß Gott schon eine Menge verzehrt habe, am zweiten Tag schon nicht mehr sehen. Was ich aber im MRT sehen konnte: Meine Leber verfettete direkt um 45 Prozent! Und das Belohnungszentrum im Hirn sprach auf Fotos von Hamburgern, Kuchen und Schokosnacks noch stärker an als vorher. Das fühlte sich verrückt an.

teleschau: Wie meinen Sie das?

von Hirschhausen: Subjektiv wollte ich nichts mehr davon sehen, aber mein Hirn wollte das genaue Gegenteil: Mehr und mehr! Da habe ich am eigenen Leib erfahren, woher dieser Widerspruch kommt. Je dicker die Menschen werden, desto weniger funktioniert ihre Appetitregulation. Unser Hirn ist dummerweise verrückt nach dieser künstlichen Mischung von Fett, Zucker und Salz - weil es die in der Natur nie gegeben hat. Das hat nichts mit "Schuld" zu tun, für mich hat das Kennzeichen von Sucht - eben "Fettsucht".

Warum wir eine Zuckersteuer brauchen

teleschau: Im Film berichten Übergewichtige von Hass und Häme, die sie einstecken müssen. Was hat Sie bei diesen Gesprächen am meisten berührt?

von Hirschhausen: Der Grundgedanke all meiner Dokus in der ARD ist ja, dorthin zu gehen, wo Kameras selten hinkommen. Durch meinen Hintergrund als Arzt kenne ich schon manche Schattenseiten von Erkrankungen - aber die Gespräche in der Therapiegruppe von Essgestörten haben mich sehr berührt. Dort sprachen wir sehr offen über den öffentlichen Druck auf Übergewichtige. Je mehr Anfeindungen, desto mehr wünschen sich die Betroffenen einen "Panzer", und Essen wird zum kurzfristigen Frustabbau.

teleschau: Im Film gehen Sie auf die hohen gesellschaftlichen Kosten ein, die Adipositas verursacht. Und Sie verweisen auf Großbritannien, wo es steuerliche Nachteile gibt, wenn Getränkehersteller zu viel Zucker in die Limonaden tun. Brauchen wir auch in Deutschland eine Zuckersteuer?

von Hirschhausen: Ja, das fordern Fachleute schon sehr lange. Denn es ist absolut unverständlich, warum die Gewinne aus dem Verkauf von ungesunden Lebensmitteln privatisiert werden, aber die Folgekosten die Gemeinschaft tragen soll. Aber die politische Einflussnahme der Industrie ist sehr mächtig, und bezeichnenderweise hat uns der Cheflobbyist ein Interview abgesagt. Positiv formuliert könnten wir mehr Gesundheit und Lebensfreude haben und dabei sehr viel Geld im Reparaturbetrieb sparen, wenn wir den Zugang zu Obst und Gemüse erleichtern und von der Mehrwertsteuer befreien, und dafür Zucker, Billigfleisch, hochverarbeiteten und hochkalorischen Schrott teurer machen. Ebenso sollte Werbung für Ungesundes für Kinder aus dem TV und dem Internet verschwinden. Das ist Konsens in der Medizin. Leider nicht in der Politik. Dabei würde uns eine Zuckersteuer laut aktueller Studien 16 Milliarden sparen - die könnte man doch gut woanders brauchen.

"Das Ernährungssystem ist echt krank"

teleschau: Sie fordern: "Es muss einfacher sein, sich gesund und vernünftig zu ernähren!" - Wie könnte das funktionieren?

von Hirschhausen: Gerade in Zeiten von Inflation und vielen Krisen sparen viele als Erstes am Essen. Gesund zu essen ist aber Menschenrecht und kein Luxus. Dänemark macht es vor: in allen Kitas, Schulen und Kantinen gibt es Standards, und - zack! - verändern sich die Gewohnheit, die Nachfrage und der Anbau von nachhaltigen Lebensmitteln. In Deutschland streiten wir seit Jahren über Kennzeichnungen, tun so, als ob "Selbstverpflichtung" funktioniert und bieten in Schulen und Krankenhäusern jeden Tag Zeug an, das alles andere als gesund oder nachhaltig ist. Das Ernährungssystem ist echt krank und zerstört unnötig Mensch und Natur. Wir können 150.000 frühzeitige Todesfälle in Deutschland verhindern durch die "planetary health diet", also Essen was für den Einzelnen und die Erde gesünder ist. Wann machen wir das endlich?

"Das größte Gesundheitsproblem ist die Klimakrise"

teleschau: In einer weiteren Doku beleuchten Sie die "Medizin von morgen". Welche Herausforderungen für das Gesundheitssystem sehen Sie in Zukunft?

von Hirschhausen: Das größte Gesundheitsproblem ist die Klimakrise, denn sie bedeutet eine enorme Belastung für alle Menschen, die schon eine Vorerkrankung haben. Alle, die mit Herz-Kreislauf, mit den Nieren oder Übergewicht, Hochdruck und Zucker zu tun haben, sind bei Hitze maximal gefährdet. Und da hilft keine KI und keine Gentechnik - bei dauerhaft mehr als 42 Grad Körperkerntemperatur sterben alle Menschen. Daran kann man sich nicht "anpassen", das ist ein Naturgesetz. Deshalb ist das auch Teil unseres Films. Gesunde Menschen gibt es nur auf einer gesunden Erde. teleschau: Die Doku läuft zum Start der neuen Staffel "Charité", die im Jahr 2049 spielt. Haben Sie schon in die neuen Folgen reingesehen? Halten Sie das Szenario für realistisch?

von Hirschhausen: Ja, sehr spannend. Lohnt sich auf alle Fälle. Für die Drehbücher wurden auch Fachleute der echten Charité hinzugezogen. Und zu den großen Themen wie neue Infektionskrankheiten, Gentechnik, Künstliche Intelligenz und Mikrobiom - also unser Zusammenleben mit den Bakterien im Bauch und auf der Haut - mache ich zusammen mit der Wissenschaftsjournalistin Katharina Adick einen Podcast.

teleschau: Auf Ihrer Homepage schreiben Sie, dass Sie Ihre Bühnenkarriere aufgegeben haben, um sich mit Ihrer Stiftung "Gesunde Erde - Gesunde Menschen" für wichtige Veränderungen einzusetzen. Könnten Sie sich vorstellen, in die Politik zu gehen?

von Hirschhausen: Damit sich Politik bewegt, braucht es eine engagierte Zivilgesellschaft und guten Wissenschaftsjournalismus. Deshalb fühle ich mich mit den Dingen, die ich heute tue, auch an der richtigen Stelle und hoffe, andere zu inspirieren. Das Wichtigste, was ein Einzelner tun kann, ist nicht alleine zu bleiben!

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