TV-Philosoph Gert Scobel: "Die Menschheit hat sich immer wieder unvernünftig verhalten"

3sat-Moderator im Interview Das 3sat-Magazin "scobel" widmet sich ab 11. April über vier Sendungen dem deutschen Aufklärer und Philosophen Immanuel Kant, der vor 300 Jahren geboren wurde. Eine gute Gelegenheit, mit Gert Scobel, einem der klügsten Menschen im deutschen Fernsehen, über den Zustand der Menschheit zu sprechen.

Vier "scobel"-Sendungen sollen im Kant-Jahr 2024 die Ideen des wichtigsten deutschen Aufklärers und Überphilosophen ins Heute transportieren. Die erste Folge "Zu Kants Frage: Was ist der Mensch?" läuft am Donnerstag, 11. April, 21.00 Uhr, bei 3sat. Der studierte Philosoph und Theologe Gert Scobel begann seine TV-Karriere 1995 als einer der Moderatoren der täglichen 3sat-Sendung "Kulturzeit". Damit und mit Formaten wie "nano", "delta" oder seit 2008 "scobel" wurde der heute 64-Jährige zu einer Institution des deutschen Fernsehens, wenn es darum ging, komplexe, aber wichtige Gedanken einem größeren Publikum nahezubringen. Mittlerweile freut er sich auch bei YouTube über erstaunliche Klickzahlen für philosophische Videos. Im Interview spricht Scobel, der seit Jahrzehnten Zen-Buddhismus betreibt, über den Zustand des Menschen - und überrascht dabei mit zuversichtlichen, aber auch alarmierenden Botschaften.

teleschau: Wir feiern 300 Jahre Immanuel Kant, der die Vernunft als wichtigstes Entscheidungskriterium in die Philosophie eingebracht hat. Der Mensch verhält sich aber gerade sehr unvernünftig, oder?

Gert Scobel: Kant wollte "öffentlich", und das bedeutet gemeinsam, von der Vernunft Gebrauch machen. Das war die Idee der Aufklärung. Deshalb musste man gegen Kirche und andere Autoritäten aufbegehren, die das nicht zuließen. Der heutige Vernunftbegriff ist aber auch nicht mehr der von damals. Früher war Vernunft etwas Monolithisches: ein Block, ein System, eine Art Logik-Software - eine gleiche Vernunft für alle. Heute verstehen wir auch die Vernunft vielfältig und dass sie kein nicht-linearer, sondern ein komplexer Prozess ist. Kant hatte da etwas anderes vor Augen.

teleschau: Aber leben wir nicht in einer Art Anti-Kant-Zeit, weil der Mensch sehr viel Irres fabriziert? - Von Kriegen bis zur Klimazerstörung ...

Scobel: Kants Kategorischer Imperativ besagt: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde." Daraus kann man keine Ethik ableiten. Aber der Kategorische Imperativ nutzt hervorragend, wenn man moralische Entscheidungen von anderen unterscheiden will. Denn wir müssen ja wissen, wann es um Moral geht und wann nicht. Die Frage, ob wir mit Links- oder Rechtsverkehr Auto fahren ist, zum Beispiel keine moralische Entscheidung. Beides ist möglich. Das ist anders bei der Frage, ob jeder Mensch die gleiche Würde hat. Davon kann ich nicht abweichen, wenn ich moralisch handeln will. Kant hat nie gesagt, dass wir Menschen nur moralisch handeln. Im Gegenteil. Es gibt viele modern klingenden Stellen bei ihm, in denen er beschreibt wie unvernünftig der Mensch agiert.

"Auswirkungen des Kapitalismus haben wir völlig unterschätzt"

teleschau: Nun sind Sie ja ein Kenner auch der aktuellen Philosophie. Ist man sich einig darüber, dass wir heute in besonders miesen Zeiten leben - gemessen an den intellektuellen und moralischen Möglichkeiten des Menschen?

Scobel: Wenn wir beide nun plötzlich im Nationalsozialismus oder im Mittelalter leben würden, kämen wir wahrscheinlich schnell zu dem Schluss: "Sehr finster und extrem unmoralisch, was hier passiert." Die Menschheit hat sich immer wieder unvernünftig und gegen besseres Wissen verhalten. Nur scheinen heute die Auswirkungen noch weitreichender zu sein als früher - zum Beispiel beim Klimawandel. Trotzdem: Düstere Zeiten hat es in der Menschheit immer wieder gegeben. Bertolt Brecht hat das bereits in seinem Gedicht "An die Nachgeborenen" beschrieben, ein sehr tolles Gedicht.

teleschau: Was sind unsere großen Probleme heute und ihre Ursachen?

Scobel: Die Auswirkungen des Kapitalismus haben wir auf jeden Fall völlig unterschätzt. Aber auch die Umwelteffekte oder das Artensterben. Und wir haben sozialen Wandel, die Verarmung und soziale Ungerechtigkeit ebenso wie die Digitalisierung unterschätzt. Kinderarmut ist ein Thema, gegen das ich mich seit langem engagiere. Wenn ich mir anschaue, wie sich dieses Problem seit mehr als 20 Jahren in Deutschland jedes Jahr verschlimmert, bin ich beschämt. Wir bekommen es einfach nicht in den Griff - unabhängig davon, welche Partei an der Regierung ist. Weil wir nicht wollen - aber gerne behaupten: "Kinder sind unsere Zukunft". Es ist gesellschaftlich im hohen Maße unvernünftig, in diesem Bereich so wenig Geld zu investieren.

"Ich selber meditiere seit über 40 Jahren"

teleschau: Sehen Sie sich eher als Pessimist - oder doch als Optimist?

Scobel: Keines von beiden, ich sehe mich als Realisten. Grundsätzlich ist das von der Situation abhängig. Was den Klimawandel betrifft, glaube ich, dass wir mit den Folgen leben werden müssen - und das wird extrem hart. Diese Folgen werden drastischer sein, als es sich viele Leute heute vorstellen. Sie können das pessimistisch nennen, aber es basiert auf Daten. Die Permafrostböden lösen sich viel schneller auf, als gedacht, die Meere erwärmen sich ebenso deutlich schneller, als ursprünglich berechnet.

teleschau: Und wo kommt der Optimist in Ihnen durch?

Scobel: Ach, da gibt es einige positive Aspekte. Ich glaube, dass wir durchaus die Möglichkeit haben, uns wieder auf einen freundlicheren Umgang mit uns und auch mit der Natur zu besinnen. Zum Teil geschieht das auch schon. Ich selber meditiere seit über 40 Jahren. Ich glaube, wenn wir diese Art der Bewusstseinskultur, wie das der Philosoph Thomas Metzinger nennt, systematisch fördern würden, sähen wir bald etwas mehr Licht am Ende des Tunnels. Und wir würden auch mehr Licht schaffen (lacht).

"International sind die Demokratien überall auf dem Rückzug"

teleschau: Derzeit wird viel darüber diskutiert, ob die Demokratie ein Auslaufmodell ist. Ein Gedanke, der uns früher absurd erschien. Was glauben Sie, wird passieren?

Scobel: Ich weiß nicht, was passieren wird. Ich glaube, entscheidend wird innenpolitisch sein, ob die Protestbewegung nachhaltig ist oder nicht. War es nur ein kurzer Moment, in dem die Leute aufgestanden sind, weil sie sich vorgestellt haben, dass sie oder ihre Lieben auch bald deportiert werden könnten? Oder ist da ein Bewusstseinswandel eingetreten, weil die Leute wacher geworden sind? Wie ernst wir es meinen, wird sich im Wahlverhalten zeigen? International sind die Demokratien überall auf dem Rückzug. Deshalb bin ich nicht so optimistisch.

teleschau: Haben wir überhaupt noch ein gemeinsames Menschenbild?

Scobel: Das müssen wir gar nicht unbedingt haben. Viel schlimmer ist, dass es keine gemeinsame Auffassung mehr von Recht geben könnte und damit keinen Schutz gegen Unrecht und Gewalt. So etwas wie Genfer Konvention, Menschenrechte und so weiter scheinen immer mehr an Bedeutung zu verlieren. Wir laufen in eine Zeit, in der wir unterschiedliche Rechtsräume haben werden, die nicht mehr miteinander kompatibel sind. Dann gibt es vielleicht einen europäischen, einen amerikanischen, einen arabischen, russischen und einen chinesischen Rechtsraum. Kant hat damals vom "Weltbürgertum" gesprochen, aber davon sind wir heute viel weiter entfernt, als es schon mal den Anschein hatte.

"KI kann aber auch für die totale Überwachung sorgen"

teleschau: Sie haben sich sehr früh schon mit Künstlicher Intelligenz beschäftigt. Nun ist das Thema in aller Munde. Wird KI für uns am Ende ein Segen sein - oder doch eher ein Horror-Szenario?

Scobel: Diese Frage ist wie bei allen Erfindungen schwer zu beantworten. Hätten Sie mich vor 150 Jahren gefragt, was ich von der Dampfmaschine halte, hätte ich natürlich gesagt: Eine super Idee! Die Dampfmaschine hat uns Licht im Dunkeln geschenkt oder auch viel schnelleres Reisen ermöglicht. Andererseits wissen wir heute, was die massenhafte Nutzung fossiler Brennstoffe angerichtet hat. Genauso wird das mit KI sein. Sie können wunderbare Sachen damit machen und große Arbeitserleichterungen schaffen. Unter anderem kann die Wissenschaft durch KI Strukturen im Meer der Daten erkennen und deutlich schneller Fortschritte machen. KI kann aber auch für die totale Überwachung sorgen. Und sei es nur als noch perfiderer Überwachungskapitalismus. KI könnte uns auf eine Art in die Irre führen, wie wir es uns vor zehn Jahren noch nicht hätten vorstellen können.

teleschau: Aus welcher Ecke der Gesellschaft wird eine starke Opposition gegen die Unvernunft kommen? Aus der Politik, der Wissenschaft - oder ganz woanders her?

Scobel: Ich glaube, es wird höchst unterschiedliche, aber kluge Gegenbewegungen geben, aber ich kann Ihnen nicht sagen, wo sich diese formieren. Ein Beispiel: Die Bedeutung von indigenem Wissen wird zunehmen. Dinge, die wir jetzt noch zum Teil als unwissenschaftlich oder unnütz abtun. Was alte Kulturen über das Leben gelernt haben, hat sehr viel mit der Erhaltung von Arten und eben der Natur zu tun. Wissen, das durch die sogenannten modernen Wissenschaften ins Hintertreffen geraten ist, muss wieder eine größere Rolle spielen. Damit wir wieder resilienter gegen Krisen werden - als Individuum und als Gemeinschaft.

"So etwas wie 'Jurassic Park' ist sehr hellsichtig"

teleschau: Sie reden mittlerweile auch bei YouTube über Philosophie. Dort haben Sie zum Beispiel Sendungen über die Philosophie der Blockbuster "Dune 2" oder "Oppenheimer" eingestellt. Weil Sie selbst Filmfan sind?

Scobel: Ich war leidenschaftlicher Filmfan und mag vor allem Science Fiction sehr gerne. Was uns jedoch vor allem interessierte, waren die vielen philosophischen Ideen in "Dune". Ich bin vom zweiten Teil übrigens ziemlich enttäuscht, den ersten fand ich noch super. Beim zweiten merkt man vor allem die Wiederholung und Sinnlosigkeit von Gewalt. Das hat mir nicht gefallen.

teleschau: Haben Sie die "Dune"-Kultbücher von Frank Herbert gelesen?

Scobel: Nein, die habe ich bislang nicht alle gelesen. Er war nicht mein Lieblings-Science Fiction-Schriftsteller. Das ist eher William Gibson, den finde ich wirklich grandios. Und falls man sagen kann, dass es Science Fiction ist, fand ich auch Michael Crichton herausragend. Weil er gesellschaftliche und technische Entwicklungen vorweggenommen hat, die damals erst wenige auf dem Radar hatten. So etwas wie "Jurassic Park" ist nicht nur hervorragend geschrieben, sondern auch sehr hellsichtig.

teleschau: Mit Ihren YouTube-Videos erreichen Sie ein ganz anderes Publikum als bei 3sat, oder?

Scobel: Ja, ein völlig anderes. Das eine Publikum weiß wahrscheinlich noch nicht mal, dass das andere existiert.

"Ich habe jetzt 150.000 Abonnenten bei YouTube"

teleschau: Was überrascht Sie bei der YouTube-Community?

Scobel: Die freundlichen, ausgewogenen Kommentare in meinem Kanal. Wir müssen nicht darüber reden, dass Social Media und natürlich auch YouTube eine Kampffläche sind. Dennoch bekommen wir sehr wertschätzende, wohlwollende Kommentare, die sich dafür bedanken, dass ich die Videos mache und einstelle. Ich tue dies wirklich im Sinne von Aufklärung, auch wenn das jetzt vielleicht ein bisschen pathetisch klingt.

teleschau: Erreichen Sie mit den YouTube-Videos mittlerweile mehr Menschen als über lineares Fernsehen oder die Mediathek?

Scobel: Nicht zwingend. Es hängt ein bisschen vom Thema ab. Ich habe jetzt 150.000 Abonnenten bei YouTube. Das ist nicht wenig, aber es ist eben auch keine Million - solche Zahlen gibt es da ja auch. Also, ich freue mich über die Resonanz, aber sie darf gerne noch größer werden. Aber dafür müsste ich wahrscheinlich andere Themen wählen und sie vielleicht auch ein bisschen "einfacher" aufbereiten.

"In unruhigen Zeiten suchen die Menschen nach Einordnung und Antworten"

teleschau: Stößt die Philosophie heute auf größeres Interesse als zu Beginn ihrer Arbeit im TV? Und wann war der Philosophie-Hype am größten?

Scobel: Man muss unterscheiden zwischen der akademischen Philosophie, an der das Interesse gleichbleibend gering ist, und dem, was man aus der akademischen Philosophie in unsere Gesellschaft oder unser persönliches Leben tragen kann. Wenn man Letzteres betrachtet, hat das Interesse an Philosophie schon zugenommen. Es gab über die letzten Jahrzehnte immer wieder Schwankungen. Denken Sie an die 60er- oder 70er-Jahre, in denen Existenzialisten wie Camus, Sartre und Co. auf einmal Stars waren.

teleschau: Wie ist es denn im Moment?

Scobel: Im Moment ist das Interesse eher wieder größer geworden. Die Phil.Cologne, ein Philosophie-Festival in Köln, das ich mit organisiere, hat sich zu einem richtigen Publikumsrenner entwickelt. Das hatten wir in dem Ausmaß nicht erwartet. Aber: Wie wahrscheinlich immer in unruhigen Zeiten, suchen die Menschen nach Einordnung und Antworten. Und da kann Philosophie durchaus helfen.

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