Zum Tode O.J. Simpsons: Prophet des postfaktischen Zeitalters

"O.J. Simpson: Made in America" Er stand im Zentrum des amerikanischen "Jahrhundertprozesses" und wurde trotz Freispruch erkennbar des Lebens nicht mehr froh. Nun ist O.J. Simpson im Alter von 76 Jahren gestorben - der Mann, dessen Fall am Beginn mancher verheerenden sozialen Entwicklung steht.

Seinen 70. Geburtstag vor sechs Jahren verbrachte der Strafgefangene Orenthal James Simpson hinter den Gittern des Lovelock Correctional Center in Nevada. Dort saß der ehemalige Footballspieler und Filmstar ein, weil er zwei Sammler von Fan-Artikeln mit Waffengewalt zur Herausgabe persönlicher Erinnerungsstücke zwingen wollte. 2017 wurde O.J. Simpson, wie alle Welt ihn nennt, auf Bewährung aus der Haft entlassen. Seit 2021 galt er als freier Mann. Die weit berühmtere Tat, für die er nie strafrechtlich verurteilt wurde, bestritt er bis zuletzt. Nun ist er mit 76 Jahren an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben.

"Die Leute glauben mir das oft nicht, aber ich könnte jederzeit neben dem echten Mörder sitzen, ohne es zu wissen", ließ Simpson unlängst einen Reporter des Magazins "The Atlantic" wissen. In seiner Wahlheimat Las Vegas verbringe er nach überstandener Corona-Infektion die meiste Zeit mit Golfen und der Erwiderung öffentlich bekundeter Zuneigung. "Die Leute wollen mir Drinks ausgeben, ich muss dauernd Selfies mit Fans machen. Frauen umarmen mich."

Weit mehr als ein amerikanischer "Cold Case"

Es ist die absurd anmutende Pointe einer Geschichte, die 1994 mit einem heute noch nicht offiziell aufgeklärten Doppelmord begann - und die weit mehr ist als nur ein amerikanischer Kriminalfall. Die Strafsache "The People of the State of California vs. Orenthal James Simpson" entwickelte eine Bedeutsamkeit über die schwierige Wahrheitsfindung hinaus.

Ganz ähnlich wie unlängst im Verleumdungsprozess zwischen den Hollywoodstars Johnny Depp und Amber Heard, den viele Beobachter als Bruch in der "MeToo"-Ära deuteten, kulminierten im Gerichtssaal soziale Spannungen, die den eigentlichen Zweck des Verfahrens schier erdrückten. Show-Effekte wie Simpsons berühmtes Hantieren mit dem scheinbar zu kleinen Lederhandschuh stachen Indizienketten aus.

Eine Verfolgungsjagd als mediales Live-Event

Niemand hat das besser herausgearbeitet als Ezra Edelman. Den "Prozess des Jahrhunderts" sowie seine Vor- und Nachwehen hat der US-Filmemacher 2016 zu dem fast acht Stunden langen Doku-Meisterwerk "O.J. Simpson: Made in America" collagiert, das mit dem Oscar gekürt wurde. Aus dem gleichen Jahr datiert die hervorragende TV-Serie "The People v. O. J. Simpson". Wer wissen will, wie die USA die strauchelnde Demokratie wurden, die sie heute sind, findet wenig, das die Anfänge mancher Fehlentwicklung besser veranschaulicht.

Dem amerikanischen TV-Publikum dürften Protagonisten, Aussagen, Schlüsselszenen aus dem Mordprozess allzu bekannt vorgekommen sein. Schließlich wurden sämtliche Geschehnisse im Gerichtssaal live im Fernsehen übertragen - die Urteilsverkündung sahen 150 Millionen Zuschauer weltweit. Bereits O.J. Simpsons Flucht im weißen Ford Bronco auf dem Interstate Highway 405 war ein von Hubschrauberkameras live in die Wohnzimmer gesendetes TV-Ereignis. Es war die Stunde, in der die ganze verheerende Kraft der Massenmedien entfesselt wurde.

"Ich bin nicht schwarz, ich bin O.J."

Im Zentrum dieses Tornados: O.J. Simpson, ein talentierter Footballspieler, der nach seiner Profikarriere vom Sport- zum Unterhaltungsstar wurde und der sich jenseits aller Rassengrenzen wähnte: "Ich bin nicht schwarz, ich bin O.J.", lautet das wohl berühmteste Zitat des allseits beliebten Charmeurs, der Mitglied im Golfklub wurde und Teil der High Society von Brentwood war, dem Reichenvorort von Los Angeles.

Die konfliktbehaftete Wirklichkeit pflegte er auszublenden. Den Rassismus, der beim LAPD vonseiten des Polizeipräsidenten quasi öffentlich abgesegnet wurde. Die Willkür und überzogene Gewaltanwendung, die sichtbar wurde etwa am Fall des schwarzen Taxifahrers Rodney King. Nach einem Geschwindigkeitsvergehen wurde der im März 1991 von Polizeibeamten krankenhausreif geprügelt. Obwohl ein Hobbyfilmer den Exzess dokumentiert hatte, wurden die Beamten später freigesprochen.

Um zu verstehen, warum der schwarze Sportstar O.J. Simpson vier Jahre später trotz erdrückender Beweislast gleichfalls freigesprochen wurde vom Vorwurf des Mordes an seiner weißen Ex-Frau Nicole Brown Simpson und ihrem Begleiter, dem Kellner Ronald Goldman, ist es unumgänglich, den Urteilsspruch der überwiegend schwarzen Geschworenenjury im zeitgeschichtlichen Kontext zu sehen.

Menschen glauben keine Fakten, sondern Geschichten

Am Fall O.J. Simpson lassen sich frappierende Entwicklungslinien ins sogenannte "postfaktische Zeitalter" ziehen, in dem wir heute leben. Damals wurde es erstmals so drastisch offenbar: dass unter dem Brennglas der medialen Öffentlichkeit eben nicht die Wahrheit zum Vorschein kommt, sondern dass sie überlagert wird von Geschichten, die Menschen gerne glauben möchten. Darunter auch Verschwörungserzählungen, wie sie den Ermittelnden damals unterstellt wurden. Filterblasendenken heißt so etwas heute, und hätte es den Begriff "Fake News" schon vor gut 20 Jahren gegeben, er wäre ziemlich strapaziert worden.

Der Freispruch, verkündet am 3. Oktober 1995, entzweit Amerika noch heute - eine Nation, die dem programmatischen Versprechen, "united" zu sein, kaum noch gerecht wird. Dass O.J. Simpson in diesem Spannungsfeld ebenfalls eine zerrissen wirkende Persönlichkeit blieb, passt nur zu gut ins Bild.

Eine Skandalbuch gewordene Provokation der Hinterbliebenen

1997 wurde der zuvor Freigesprochene in einem Zivilprozess des Doppelmordes schuldig erkannt. Von der festgesetzten Schadensersatzleistung an die Hinterbliebenen von 33,5 Millionen US-Dollar floss jedoch nur ein winziger Bruchteil. Strafrechtlich bindend war dieses Urteil ohnedies nicht.

2006 schlug das offen klaffende Trauma eine groteske Volte. Simpson kündigte beim Fernsehnetzwerk Fox an, ein Buch zu veröffentlichen, in dem er den Tathergang schildern wolle, wäre er der Täter - rein hypothetisch! "If I Did It" ("Wenn ich es getan hätte") hieß das Skandalwerk, das von den Opferfamilien als blanke Provokation aufgefasst werden musste. Die Veröffentlichung wurde zunächst verboten, dann wurde der Text nach Verfügung eines Konkursrichters doch verlegt zu den finanziellen Gunsten der Hinterbliebenen.

Ähnliche Skandalschlagzeilen lieferte O.J. Simpson seit dem Verbüßen seiner Haftstrafe wegen bewaffneten Raubüberfalls kaum noch. Auf dem Trümmerfeld dieser spektakulär gescheiterten Star-Existenz ist nun nicht gerade Frieden, aber Ruhe eingekehrt.

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