Back to Europe! Was für und gegen eine Rückverlagerung von Fertigungs- und Lieferketten auf den Kontinent spricht

Seit in den frühen 1990ern die bislang dritte Phase der Globalisierung begann, hat sich das Outsourcen von unternehmerischen Prozessen und das Spannen von teils globalen Netzen zu einem der wichtigsten Modi Operandi der Wirtschaft entwickelt.

Doch insbesondere seit Pandemiebeginn lässt sich ein stärker werdender Gegentrend beobachten - und zwar ebenfalls auf unterschiedlichsten wirtschaftlichen Ebenen. Für heutige Mittelständler stellt sich daher definitiv die Frage, was es ihren Bestrebungen bringt, Teile des oder sogar das gesamte Business wieder nach Europa zu holen.

Zum Einstieg: Die wichtigsten Begriffe

Den meisten Unternehmer dürften die beiden Begriffen Offshoring und Outsourcing geläufig sein:

  • Offshoring: Dachbegriff für die generelle Verlagerung von Teilen oder der gesamten Aktivität in ein nahes oder fernes Ausland. Der Fokus des Begriffs liegt auf dem Geographischen.
  • Outsourcing: Sammelbegriff für das Auslagern von Aktivitäten an andere Unternehmen. Hier fokussiert sich der Begriff auf das Wirtschaftliche. Beispielsweise wäre es möglich, an ein Unternehmen auf der anderen Straßenseite outzusourcen.

Aktuell werden hingegen gegenteilige Handlungen sehr prominent. Um das in Zahlen auszudrücken: Gemäß einer ABB-Umfrage aus dem Jahr 2022 planen ganze 74 Prozent aller europäischen, und immerhin 70 Prozent der US-amerikanischen, Unternehmen, den "Rückwärtsgang" einzulegen - aus unterschiedlichsten Gründen. Ein Jahr zuvor sah es deutlich anders aus.

In diesem Zusammenhang gewinnen weitere Begriffe an Bedeutung:

  • Reshoring: Erneut ein geographisch konnotierter Begriff. Als Gegenpart zum Offshoring ist damit gemeint, bislang im Ausland stattfindende Prozesse ins Mutterland des Unternehmens zurückzuverlagern.
  • Nearshoring: Damit wird stets das nahe Ausland bezeichnet; in unserem Fall konkret die EU oder wenigstens Europa. Es hängt jedoch vom Kontext ab, ob es sich um eine Rückverlagerung aus dem fernen Ausland handelt oder um eine "weiche" Variante des Offshoring. Beim Verlagern in fernere Länder außerhalb Europas ist das präziser als Farshoring zu bezeichnen.
  • Friendshoring: Kann ebenfalls sowohl eine Form der Aus- als auch der Rückverlagerung sein. Der Fokus liegt auf der Art des Landes. Stets ist es eines, zu dem das Heimatland des Mutterkonzerns besonders freundliche und auf lange Sicht stabile Beziehungen unterhält. Je nach Einzelfall können Friend- und Nearshoring durchaus deckungsgleich sein. Etwa, wenn ein deutschstämmiges Unternehmen seine aktuell in Asien befindliche Produktion nach Spanien, Frankreich und Schweden rückverlagern würde - alles nahegelegene und sehr freundlich verbundene Staaten.
  • Insourcing: Erneut spielt hier die Geographie keine Rolle, sondern allgemein nur das Rückverlagern von bislang in anderen Firmen durchgeführten Prozessen.

Im Kontext dieses Artikels, wo es generell um das Rückholen von Fertigungs- und/oder Lieferketten geht, werden wir die Begriffe dementsprechend nutzen. Das bedeutet vor allem: Wenn wir von Reshoring schreiben, dann ist die Rückverlagerung aus außereuropäischen Staaten gemeint. Wo dem nicht so ist, haben wir es kenntlich gemacht.

Die Gründe, warum Re- und Nearshoring derzeit weit mehr als ein kurzlebiger Trend zu sein scheinen, sind rasch erläutert: Der seit Beginn der 2020er herrschende "Dauer-Ausnahmemodus" hat die bisherigen Vorteile des Auslagerns negiert und lässt ihre Schwächen überdeutlich hervortreten. Damit wären wir beim ersten Vorteil der Rückverlagerung angelangt:

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Vorteil 1: Resilientere Produktions- und Lieferketten

Bis das Jahr 2020 anbrach, konnten Unternehmen, die ihre Aktivität ins Ausland verlagerten, von global weitgehend stabilen Verhältnissen profitieren. Natürlich gab es in den zurückliegenden 30 Jahren Krisen. Sie waren jedoch entweder lokal begrenzt oder von kurzer Dauer, Insbesondere:

  • die Pandemie als global auftretendes, aber lokal völlig unterschiedlich gehandhabtes Ereignis und
  • der Ukraine-Krieg, der gleich zwei für Deutschlands Wirtschaft wichtige Länder nahezu vollständig ausfallen ließ,

sorgten für ein nachhaltiges Ende dieser Epoche. Vor allem Corona machte deutlich: Die Produktions- und Lieferketten in der globalisierten Weltwirtschaft sind besonders komplex aufgebaut, aber dadurch anfälliger für Störungen. Die Ketten bestehen aus mehreren Teilen, von denen jedes einzelne durch bestimmte Faktoren beeinträchtigt werden kann.

Eine der wirtschaftlich relevantesten Branchen ist geradezu ein Paradebeispiel dafür: Die Metallbranche war gleich mehrfach eingeschränkt. Im einen Land wurden große Häfen durch Lockdown-Maßnahmen geschlossen, im anderen waren Minen für Legierungsstoffe zu. Im dritten Staat mussten Gießereien oder Walzwerke die Produktion drosseln, weil ihre Lieferketten ebenfalls beeinträchtigt waren.

Das führte zu stark kaskadierenden Effekten. Hier waren zunächst die Metallfirmen betroffen und dann ganz rasch alle anderen Branchen, die deren Produkte benötigten. Es zeigte sich sehr deutlich, wie rasch die vielen "Maschen" globalisierter Netze zerfallen, wenn dazwischen zu viele "Fäden" reißen. Re- und Nearshoring sorgen für das Gegenteil:

  • Die Distanzen werden kürzer,
  • es sind weniger Länder und Betriebe involviert,
  • die Anfälligkeit wird mitunter massiv verringert.

Wenn die Prozesse eines auftraggebenden Betriebes sich auf zehn entfernte Länder und in jeweils zwei Firmen verteilen, dann kann die Kette an mindestens 20 verschiedenen Stellen reißen. Wenn der Auftraggeber hingegen höchstens mit einer Handvoll Firmen in ein oder zwei Nachbarländern arbeitet, senkt sich dementsprechend die Zahl möglicher Fehlerquellen deutlich.

Vor allem, weil aktuell (Anfang 2024) schlicht nicht abschätzbar ist, wann dieser Krisenmodus endet und ob es jemals wieder eine Rückkehr in die stabilen Verhältnisse vor 2020 gibt, entscheiden sich immer mehr Unternehmen dafür, auf Nummer Sicher zu gehen. Erleichtert wird diese Entscheidung, weil in vielen klassischen Offshoring-Nationen der wichtigste Vorteil, die günstigeren Kosten, immer stärker wegbricht.

China etwa, einst ein klassisches Billiglohnland, hat über die Jahre ein recht hohes Lohnniveau erreicht. Wohl waren die jüngsten Steigerungen moderat, aber durch das bereits sowieso vergleichsweise hohe Niveau dennoch schmerzhaft für hiesige Firmen.

Mittel- bis langfristig wird sich das Thema der billigen Produktionsstaaten ohnehin wohl von selbst erledigen - denn überall wird das allgemeine Lebens- und somit Kostenniveau steigen. Insofern bedeutet eine Rückverlagerung nur die Vorbereitung auf unvermeidbare Prozesse.

Vorteil 2: Verringerte Abhängigkeiten

Eines der großen Argumente für das Offshoring war stets, durch die diversifizierten Ketten von einzelnen "Playern" unabhängiger zu werden. In der Realität hingegen hat diese Theorie verschiedenste Lücken. Denn

  • Rohstoffvorkommen,
  • Wissen bzw. Fähigkeiten,
  • Arbeitskräfte sowie
  • Sparten, Branchen und einzelne Unternehmen

sind global höchst unterschiedlich verteilt. Denken wir etwa an die weltweiten Lithium-Reserven, die sich auf eine kleine Handvoll Staaten konzentrieren. Oder Halbleiter-Fabriken, die sich ebenfalls auf nur wenige Länder konzentrieren.

Tatsächlich kann ein Re- oder Nearshoring dabei helfen, mittel- bis langfristig die eigenen Abhängigkeiten deutlich zu verringern. Natürlich kann es zu Anfang schwierig sein. Etwa, wenn lokale Fachkräfte an Arbeitsweisen herangeführt werden müssen, die ihre Kollegen in Offshoring-Staaten seit Jahrzehnten perfektioniert haben. Doch gerade die Geschichte des globalisierten Offshoring zeigt, dass sich solche Unterschiede mit der Zeit beseitigen lassen.

Aktuell ist außerdem noch genügend Zeit. Schon in wenigen Jahren könnte aufgrund der langen Zeitspanne wichtiges Grundwissen bei der hiesigen Arbeiterschaft verloren gegangen sein, wo sich jetzt noch branchenspezifisch anknüpfen ließe.

Noch vor 30 Jahren etwa war China praktisch nicht mit automatisierten Produktionsmethoden westlichen Stils vertraut. Heute hingegen hat das Land nicht nur auf-, sondern vielfach überholt.

Natürlich kann eine Rückverlagerung nicht sämtliche Abhängigkeiten beseitigen. Wohl aber verringert sie die Macht einzelner Staaten, was global betrachtet für eine bessere Angebotsdiversifizierung und weniger Monopole sorgt. Würden beispielsweise nur 20 Prozent aller deutschen Firmen, die in China fertigen lassen, sich aus dem Land zurückziehen, dann wäre Deutschland unabhängiger von den vielkritisierten Praktiken im "Reich der Mitte". Gleichzeitig hätte ebendieses Reich nicht mehr so viel Hebelkraft.

Gerade aktuell, wo China sich immer imperialistischer gibt und verschiedene Experten längst einen neuen Kalten Krieg heraufziehen sehen, dürfte mehr Unabhängigkeit von diesem Land und anderen Staaten unter seinem Einfluss ebenfalls eine sichere Option sein.

Zwar versucht Europa in diesem hauptsächlich zwischen China und den USA stattfindenden Zwist eine dritte Position einzunehmen. Ob diese jedoch unter allen Bedingungen Standfestigkeit beweist und es nicht am Ende auf eine neuerliche Ost-West-Konfrontation hinausläuft, darf bezweifelt werden.

Wie richtig mehr Vorsicht ist, zeigt nicht zuletzt der Ukraine-Krieg. Jeder, der sich zuvor stark von Russland oder der Ukraine abhängig gemacht hat, hat teils bis heute größte Probleme damit, seine Produktions- und Lieferketten neu zu formieren - wahrscheinlich nicht zu gewohnten Preisen und Konditionen.

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Vorteil 3: Kürzere Transportwege und geringere Kosten

Heutzutage laufen etwa 80 Prozent des weltweiten Handels über die Meere. Neben generellem Im- und Export hat die globalisierte Wirtschaft einen großen Anteil daran.

Erneut gilt: Bis zum Ende der 2010er hatte sich dieser Teil der Globalisierung sehr präzise eingependelt, war austariert und dadurch vorhersagbar. Ebenso waren die Frachtraten weitgehend stabil, zum Beispiel zwischen Asien und Europa. Kurz vor der Finanzkrise 2007 lagen sie bei etwa 1.700 Dollar für den 40-Fuß-Container. Bis zur Pandemie waren die Preise nur bis in den unteren 2.000-Dollar-Bereich gestiegen.

Dann jedoch begann sozusagen das "Chaos". Zeitweilig versiebenfachte sich der Preis auf über 11.000 Dollar. Nachdem sich die Raten zwischendurch wieder gefangen hatten, liegt aktuell (Anfang 2024) der so wichtige FBX11-Index abermals deutlich über 4.000 Dollar. 

Damit steht eines bereits fest: Die Ära der vorhersehbaren Seefrachtkosten ist bis auf Weiteres beendet. Dadurch sind ins Ausland verlagerte Liefer- und Produktionsketten preislich ungleich komplexer und volatiler geworden. Schon das allein spricht deutlich für eine Rückverlagerung nach Europa. Nicht nur, weil hier vielfach der Seetransport generell überflüssig ist, sondern weil es ebenso möglich ist, relativ spontan zwischen Fluss, Schiene und Straße zu wechseln.

Es gibt jedoch noch mehr Gründe dafür. Derzeit bahnt sich am Eingang des Roten Meers eine Situation an, gegen die die 2021 im Suez-Kanal quergeschlagene Ever Given mit all ihren Folgen geradezu harmlos wirkt - ein Grund für die zuletzt gestiegenen Frachtraten. Wie lange die Lage noch anhält, ist offen.

Es ist jedoch nicht unrealistisch, dass sich hier ein langfristiger Problemherd auftut. Schon zwischen 1967 und 1975 hatte Ägypten den Suez-Kanal gesperrt. Damals war die Weltwirtschaft jedoch bei Weitem noch nicht so abhängig von massivem Seeverkehr, weshalb die Folgen moderat waren. Heute hingegen könnten sie katastrophal sein. Mancher erinnert sich vielleicht noch, wie viele kaskadierende Störungen die wenigen Tage der Ever Given-Blockade verursachten.

Nicht zuletzt muss das Thema Nachhaltigkeit bedacht werden. Der Seetransport ist nur pro Tonnenkilometer beim CO2-Ausstoß besser als andere Alternativen. Dagegen stehen andere Faktoren:

  • Bei Re- oder Nearshoring werden die Transportdistanzen generell deutlich kürzer. Das bedeutet stark verringerte absolute CO2- und andere Emissionen.
  • Was andere Schadstoffe anbelangt, etwa Schwefel, sind selbst moderne Containerschiffe regelrechte "Dreckschleudern" im Vergleich mit Diesel-LKW, Eisenbahnen und sogar Binnenschiffen, da diese sauberere Kraftstoffe nutzen.

Das bedeutet im Endeffekt: Eine Rückverlagerung nach Europa oder gar Deutschland macht die gesamte Kette eines Unternehmens sauberer - gut für den Planeten und ebenso gut fürs Image.

Übrigens: Das Thema Image sollten Unternehmen auch aus einem anderen Blickwinkel nicht unterschätzen. Denn Made in Germany bzw. Made in Europe stehen bei vielen Verbrauchern hoch im Kurs. Ebenso haben Firmen einen Bonus, die in ihrem Heimatkontinent Arbeitsplätze erschaffen und Steuern zahlen - statt irgendwo auf der anderen Seite des Planeten.

Nachteil 1: Teils komplexe Umsetzbarkeit

Nicht jede Abhängigkeit lässt sich durch Reshoring beseitigen. Denn wenn es beispielsweise einen Rohstoff nur in einer bestimmten Weltregion gibt, dann ist ein dortiger Bezug schlicht alternativlos.

Dabei wird die Rückverlagerung umso komplexer, je umfassender ein Produkt bereits in anderen Ländern gefertigt wird und je weniger grundlegende Kapazitäten in Europa vorhanden sind. Mitunter ist es daher nötig, eine ganze Produktion neu aus dem Boden zu stampfen - mit allen sich daraus ergebenden Unwägbarkeiten, Risiken und Erschwernissen.

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Nachteil 2: Mehr Kosten

Zweifelsohne reduziert Reshoring unter anderem die Transportkosten ganz erheblich. Ebenso gibt es selbst auf dem Kontinent noch Länder, in denen es sich aufgrund der Lohn- und allgemeinen Kostenstruktur noch günstig fertigen lässt. Insgesamt aber werden sich die meisten Kosten lediglich verlagern.

Für viele Unternehmen dürften sie jedoch in absoluten Zahlen sogar steigen. Hierhinter steht eine komplexe Mixtur verschiedener Kostenpunkte:

  • Selbst die günstigen europäischen Staaten sind im globalen Vergleich relativ teuer.
  • Der Bezug von Rohstoffen und Vorprodukten aus anderen Weltregionen kann durch die dafür gestiegenen Distanzen teurer werden. Mitunter spielen hier politische Gründe eine Rolle. Zum Beispiel Zölle oder Steuern, die nunmehr sozusagen als "Strafe" anfallen.
  • Energie, Wasser, Abfallbeseitigung und viele ähnliche Faktoren sind in Europa ebenfalls sehr teuer.

Nicht zuletzt sind noch die vielkritisierte deutsch-europäische Bürokratie einzubeziehen sowie die damit verbundenen Kosten. Beispielhaft dafür ist das aktuell anlaufende EU-Grenzausgleichssystem CBAM. Gerade wer durch das Reshoring stärker exportorientiert arbeitet oder es sowieso tut, könnte dadurch mit hohen Kosten konfrontiert werden, weil bislang ein Instrument fehlt, das Exporte vergünstigt.

Vor dem Hintergrund strengerer Standards kann es ebenfalls nötig sein, deutlich teurere Maschinen, Prozessketten usw. anzuschaffen, um den hiesigen Gesetzen gerecht zu werden. Das alles kann für eine merkliche Verteuerung des Produkts sorgen. Daher ist es zumindest nötig, sorgfältig alle möglichen positiven Effekte auf der Einnahmenseite mit diesen Posten zu verrechnen.

Nachteil 3: Teils sehr geringe Fachkräfteverfügbarkeit

Die aktuellen Meldungen über Deutschland sorgen bei vielen für eine gewisse Vernebelung einer viel größeren Realität: Europa in seiner Gesamtheit hat einen erheblichen Fachkräftemangel. Er unterscheidet sich vielfach nur in prozentualen Nuancen zwischen den Staaten.

Das ist ein Grund, warum ein erheblicher Teil der erwähnten Firmen, die Near- oder Reshoring betreiben möchten, ankündigte, stark auf KI und Robotik setzen zu wollen: Einfach, weil sie glauben, nur so das Thema Fachkräftemangel in den Griff zu bekommen.

Weiter müssen hier absolute Zahlen bedacht werden. Viele der klassischen Offshoring-Nationen haben

  • vergleichsweise sehr hohe Bevölkerungszahlen,
  • besonders viele Menschen im erwerbsfähigen Alter sowie
  • mehrere Millionen Personen, die für jede denkbare Arbeit bzw. Branche infragekommen - selbst für Jobs, die in Europa unbeliebt sind.

Aktuell befinden sich beispielsweise in China knapp 70 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter - rechnerisch ungefähr 990 Millionen Menschen. Zwar altert das Land rasant, aber dieser Effekt wird noch Jahrzehnte benötigen, bis er voll durchschlägt.

Die EU dagegen bringt es insgesamt lediglich auf 449 Millionen Menschen, von denen 64 Prozent im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 sind - 287 Millionen Personen.

Zu diesen generell reduzierten Fachkräftezahlen kommt noch ein weiterer Faktor hinzu: Vieles, was seit Jahrzehnten in Offshoring-Nationen erzeug wird, wird hierzulande seit ähnlich langer Zeit nicht mehr hergestellt. Je nach Branche ist dadurch eine Menge Grundlagenwissen verlorengegangen.

In einigen Sparten gab es bei uns sogar niemals vergleichbare Fertigungen, an die sich anknüpfen ließe. Bis 2023 beispielsweise wurde fast nirgendwo in Europa ein Smartphone gefertigt; derzeit baut HMD in Finnland solche Kapazitäten auf.

Ebenfalls sind Jahrzehnte vergangen, seitdem auf dem Kontinent in nennenswertem Umfang Halbleiter-Chips produziert wurden. Aus digitaler Sicht war das die "Steinzeit", die mit heutigen Systemen und Fertigungsmethoden nichts gemein hat.

Unterm Strich bedeutet das: Eine Rückverlagerung nach so langer Zeit kann vor ganz ähnlichen personellen und wissensstrukturellen Herausforderungen stehen wie seinerzeit das Offshoring, als moderne westliche Produkte und Fertigungsmethoden in damals recht rückständige Staaten ausgelagert wurden.

Der Unwägbarkeitsfaktor: Negative Auswirkungen auf Europas Wirtschaft

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Eigentlich sollte man annehmen dürfen, ein verstärktes Re- und Nearshoring würde den Wirtschaftsstandort Europa stärken. Insbesondere, weil dadurch hier mehr Steuern bezahlt werden, Löhne auf dem Kontinent bleiben oder die allgemeinen Wertschöpfungsketten kompakter gehalten werden.

Allerdings sehen das nicht alle Experten so. So bezifferte beispielsweise das Ifo-Institut den Wert deutscher Vorleistungen, die in anderen Staaten weiterverarbeitet werden, auf knapp 529 Milliarden Euro. Weiter warnte dasselbe Institut Anfang 2022, ein Abbau globaler Lieferketten könnte Deutschlands Bruttoinlandsprodukt um knapp 10 Prozent reduzieren. Primär, weil dadurch weniger wettbewerbsstarke Teile an Bedeutung in der hiesigen Wertschöpfung gewinnen würden.

Weiter sagte Holger Görg, Präsident am Kieler Institut für Weltwirtschaft, in einem Interview mit dem Deutschlandfunk:

"Wir haben Wertschöpfungsketten so organisiert, dass wir da sehr stark auch auf Inputs von anderen Ländern angewiesen sind. Auf der anderen Seite exportieren Deutschland und deutsche Unternehmen sehr viel. Also: Wir sind stark in die Globalisierung verflechtet und auch einer der großen Gewinner der Globalisierung, das muss man auch mal sagen."

Ob sich diese Prognosen wirklich bewahrheiten, lässt sich in derart komplexen, unvorhersagbaren Zeiten wie den heutigen nicht sagen. Eines steht jedoch definitiv fest: Das Zurückholen von Kapazitäten, vielleicht sogar das komplette Beenden globaler Produktions- und Transportketten, ist für jedes Unternehmen ein Kraftakt sondergleichen. Ganz gleich, ob es sich um Reshoring nach Deutschland oder Near- bzw. Friendshoring in ein europäisches Nachbarland handelt.

Die Rückverlagerung kann durchaus sehr starke Vorteile ins Feld führen. Ob diese jedoch stärker wirken als die ebenso unzweifelhaft vorhandenen Nachteile, hängt von jedem Unternehmen einzeln ab, von seiner allgemeinen Branche, den bisherigen globalen Verflechtungen und nicht zuletzt von dem, was die Zukunft noch bringt.

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