Kinderseelen in Not: Wie die Klinik in Mittweida gegen psychosomatische Leiden kämpft

Medizin In einer Welt, in der psychosomatische Erkrankungen bei jungen Patienten rasant zunehmen, erhebt sich die Kinder- und Jugendklinik in Mittweida als Hafen der Hoffnung. Wie geht die Psychosomatik-Station in Mittweida diese Herausforderungen an?

Mittweida. 

Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden unter psychosomatischen Störungen, die den Alltag der Patienten und ihrer Familien stark beeinträchtigen. Etwa 10-20 Prozent der Schulkinder und Jugendlichen haben körperliche Beschwerden ohne klare organische Ursache. Der Bedarf zum Handeln ist höher denn je. Blick.de hat mit Chefarzt Dr. med. Norman Händel und Stationsarzt Arndt Weber der Kinder- und Jugendklinik in Mittweida gesprochen. Wir haben nachgefragt, welche Hilfe die Patienten erhalten, welche Erkrankungen behandelt werden und was das Besondere dieser Einrichtung ist.

 

BLICK.de: Ende 2020 ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) in Mittweida geschlossen worden. Seit April 2021 ist die neue Psychosomatik-Station ans Netz gegangen, in der sie tätig sind. Worin unterscheidet sich die Arbeit?
Chefarzt Dr. med. Norman Händel und Stationsarzt Arndt Weber: Die Psychosomatik stellt den gemeinsamen Schnittpunkt zwischen der Kinder- und Jugendmedizin sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie dar. In Krankenhäusern kann die Verantwortung für die Psychosomatik, je nach organisatorischer Struktur, entweder von der psychiatrischen Abteilung übernommen werden oder aber von der pädiatrischen Abteilung als eigenständiger Bereich geführt werden.

Die Psychosomatik beschäftigt sich mit den komplexen Wechselwirkungen zwischen dem Körper einerseits, den Gefühlen, Vorstellungen und Verhaltensweisen sowie menschlichen Beziehungen andererseits. Psychosomatische Krankheiten entstehen, wenn diese Beziehungen gestört sind und von den Patienten nicht verstanden werden. Eine Besonderheit der stationären psychosomatischen Behandlung ist, dass die Therapie eine entsprechende Behandlungsmotivation und aktive Mitarbeit von den Patienten erfordert.

Welche Erkrankungen werden behandelt?
Die bei uns behandelten Kinder und Jugendlichen präsentieren sich oftmals mit länger bestehenden unspezifischen Symptomen wie Kopf-, Bauch-, Brust-, Rücken- Gelenkschmerzen, Ein- und Durchschlafstörungen, Antriebsminderung, diffusen Ängsten insbesondere in sozialen Situationen, Schulangst bis zur völligen Schulverweigerung, therapieresistenten Einnässen und/ oder Einkoten, Tic-Störungen, Essstörungen und zum Teil heftigen vegetativen Reaktionen in Anforderungssituationen.

Gibt es Krankheitsbilder, wofür die Psychosomatik-Station nicht zuständig ist?
Ja. Wir behandeln keine Patienten mit akuten Suizidgedanken oder akut nach Suizidversuchen, akuten Psychosen, schweren Depressionen, Selbst -oder Fremdgefährdung, Psychotraumata und Suchterkrankungen. Die Patienten mit diesen Krankheitsbildern werden an die zuständige Kinder- und Jugendpsychiatrie verwiesen.

Wie lange ist die Wartezeit und wie alt sind die Patienten?
Ungefähr ein viertel Jahr warten die Patienten auf einen Behandlungsplatz. Die meisten sind Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren.

Wie lange sind die Patienten in der Klinik?
Die meisten Patienten sind zwischen sechs und acht Wochen stationär in Behandlung. In Abhängigkeit des Verlaufes kann die Behandlung unter Umständen auch verlängert werden, um den Behandlungserfolg sicherzustellen.

Wie läuft das genau ab?
In der ersten Woche werden die ausführliche Kranken- und Familiengeschichte sowie die Beschwerden erfasst. Es erfolgt auch eine umfassende psychologische Diagnostik, einschließlich standardisierter Testverfahren. Darauf aufbauend wird ein persönlicher Behandlungsplan erstellt. Es werden zudem Ziele festgelegt. Dadurch entsteht dann eine maßgeschneiderte Therapie. Die Ziele werden regelmäßig überprüft und ausgewertet. Unter Umständen passen wir die Therapie entsprechend an.

Wie ist so ein Tag der Patienten strukturiert?
Wichtig ist, dass die Patienten wieder eine Tagesstruktur erhalten. Deswegen gibt es feste Essens- und Therapiezeiten. Regelmäßigkeiten geben Sicherheit. Dadurch verbessert sich auch der Tag- Nacht und somit Schlafrhythmus. Beispielsweise beginnt der Tag bei uns mit einem gemeinsamen Frühstück, später haben die Patienten in der Regel zwei bis drei Einzel- und/oder Gruppentherapien. Dazwischen ist Schule, aber auch Freizeit.

Wer kümmert sich um die Patienten?
Wir haben ein multiprofessionelles Team hier vor Ort, welches zum Teil jahrzehntelange Erfahrung in der Arbeit mit seelisch kranken Patientinnen und Patienten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie mitbringt. Um unsere Patientinnen und Patienten kümmern sich Kinder- und Jugendärzte, Psychotherapeutinnen, eine Familien- und Spieltherapeutin sowie Moto-, Ergo- und Werktherapeuten. Und natürlich werden die Jugendlichen außerhalb der Therapiezeiten durch ein erfahrenes und engagiertes Pflege- und Erziehungsteam betreut. Ein ganz wichtiger Bestandteil ist die Klinikschule. Für soziale Belange steht uns eine Sozialarbeiterin zur Verfügung.

Was ist das Besondere ihrer Arbeit in der Klinik?
Die Patientinnen und Patienten begeben sich immer freiwillig in unsere Behandlung. Sie haben ein Anliegen in Form von Problemen, die sie mit unserer Hilfestellung lösen wollen. Auf unserer Psychosomatik-Station werden keine Behandlungen gegen den eigenen Willen durchgeführt. Je nach Krankheitsbild und -schwere genießen unsere Patientinnen und Patienten verschiedene Freiheiten. So ist bspw. in den meisten Fällen eine Wochenendbeurlaubung von Samstag zu Sonntag möglich.

Gibt es seit der Pandemie verstärkter Bedarf?
Ja, absolut! Allein die Essstörungen haben seit der Corona-Pandemie einen Zuwachs von 20 Prozent. Auch soziale Phobien und Depressionen haben deutlich zugenommen. Wir sind mit unseren ambulant tätigen Kolleginnen und Kollegen gut vernetzt und wissen, dass die Patientenanfragen dramatisch zugenommen haben, die ambulanten Behandlungskapazitäten kaum noch ausreichen und man den Patientenbedürfnissen nur noch schwer gerecht werden kann. Die Corona-Pandemie hat die Versorgungslage weiter verschärft.

Die Finanzierung für ihre Arbeit gestaltet sich in Deutschland schwierig. Was ist ihr Wunsch?
Wir wünschen uns eine auskömmliche und faire Finanzierung unserer medizinischen Leistungen und unseres Personals und eine angemessene Wertschätzung unserer Arbeit für die Kinder und Jugendlichen.


Zahlen und Fakten einer Studie

Laut der COPSY-Studie (COVID-19 and Psychological Health), welche vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf herausgegeben wird, haben die psychosomatischen Beschwerden von Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu der Zeit vor der Corona-Pandemie zugenommen. Vor der Pandemie litten Kinder und Jugendliche insbesondere unter Schlafproblemen und Reizbarkeit. Während der 1. Welle stieg der Anteil der Befragten, die unter Reizbarkeit litten, von 39,8 Prozent auf 53,2 Prozent. In der 3. Welle waren rund 57 Prozent betroffen. Der Anteil der 7- bis 17-Jährigen, der mindestens einmal wöchentlichen Bauchschmerzen hat, hat sich im Verlauf der Pandemie fast verdoppelt: Vor der Pandemie waren es 21,3 Prozent, während im September/Oktober 2021 etwa 39,2 Prozent über diese Beschwerden klagten.

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