Warum hassen alle Chemnitz?

Anikas Einblick "Warum wohnst du denn in dieser hässlichen Stadt?"

Anikas Einblick
Chemnitz. 

"Und woher kommst du so", ist eine geläufige Frage, wenn sich Menschen kennenlernen. Wenn ich aber antworte: "Ich wohne in Chemnitz.", dann weiß ich in der Regel, was als Nächstes kommt: "Was will man denn in Chemnitz? Leipzig und Dresden sind ja mal viel besser, warum wohnst du nicht da?" Badumzz.

Der Auslöser

Vielleicht habt ihr das schon einmal so oder in ähnlicher Weise erlebt. Jedes Mal versetzt mir so ein Kommentar einen kleinen Stich in mein I-<3-Chemnitz-Herz. Ich finde das irgendwie despektierlich, dass sich Menschen anmaßen, sowas über unsere Stadt zu sagen und meistens sind das Leute, die noch nicht einmal selbst hier waren oder gewohnt haben. Ich fühle mich dann abgewertet und versuche automatisch Chemnitz zu verteidigen. Mir ist dabei aber auch aufgefallen, dass ich solche Kommentare wie "Chemnitz ist doch hässlich, was will man denn da" öfters erst nördlich des Erzgebirges bis nach Brandenburg höre, anstatt in anderen Teilen Deutschlands. Aber warum wird Chemnitz von anderen Sachsen abgewertet?

Fragen über Fragen

Was machen wir falsch und was andere Städte wie Leipzig und Dresden richtig? Wieso fühle ich mich manchmal schlechter, weil ich hier lebe und nicht in den anderen tollen großen Städten, die ja angeblich so viel mehr zu bieten haben? Wieso hasse ich es, diese Stadt immer verteidigen zu müssen wie ein kleines Geschwisterchen, aber den anderen Recht geben will ich auf keinen Fall? Ich frage mich, ob nur ich diese Situationen erlebe oder ob es auch anderen Chemnitzern so geht? Deswegen habe ich mich auf die Suche nach Antworten gemacht.

Disclaimer: Dies ist keine valide Befragung, nur ein Querschnitt/ Meinungsbild aus meinem persönlichen Umfeld.

Die ersten Antworten: Man kennt Rechtfertigung

Eine Freundin von mir kommt aus einem Dorf nahe Chemnitz und lebt seit dem Studium hier. Sie kennt das Szenario, was ich oben beschrieben habe, sehr gut: "Ja, ich habe manchmal das Gefühl, dass ich mich rechtfertigen muss, warum ich nicht in Leipzig oder Dresden wohne, sondern in Chemnitz geblieben bin. Das fand ich anfangs schlimmer, aber mittlerweile stehe ich dazu, dass ich in Chemnitz wohne und sage einfach, wieviel meine 3-Raum-Wohnung kostet und dann ist mein Gegenüber still."

Ein Freund von mir - der aus dem Erzgebirge kommt und in Chemnitz wohnt und an der TU Chemnitz arbeitet - erzählte mir, dass er ein ähnliches Gefühl kennt: "Einen Komplex oder Scham habe ich nicht. Dennoch hat man so einen automatischen Reflex gegenüber Gästen, zum Beispiel geschäftlich Projektpartner, darzustellen, dass Chemnitz gar nicht so schlecht ist." Genau das meine ich. Warum glauben alle, Chemnitz ist Müll? Nun, da fallen mir leider auf Anhieb mindestens fünf Fakten ein. Mist. Punkt für die anderen. (Aber dazu unten mehr)

Rechtsdruck hinterlässt Spuren

Eine meiner engeren Freundinnen wohnt schon immer in Chemnitz, auch bei ihr höre ich etwas Rechtfertigendes heraus: "Ich habe schon mehrfach sowas gesagt wie - ich gehöre zu den langweiligen Leuten, die einfach nicht weggezogen sind zum Studieren." Sie glaubt aber nicht, dass das etwas mit Chemnitz an sich zu tun hat. Ich frage sie, ob sie das auch sagen würde, wenn sie aus Leipzig kommen würde. Wäre es bei Leipzig dann nicht viel mehr: Hier ist es cool, warum sollte man hier auch wegziehen wollen? "Vielleicht hast du gerade voll was aufgedeckt", sagt sie in unserer Diskussion.

Eine andere Freundin ging aus dem Chemnitzer Raum nach Leipzig zum Studieren. Sie erzählte mir, sie habe sich damals nie vorstellen können, nach Chemnitz zu ziehen, wo sie so viel Zeit in ihrer Jugend verbracht hat. Heute wohnt sie hier und ist froh darüber. "Dennoch fühle ich mich nicht immer wohl bei dem Gedanken zu sagen, dass ich aus Chemnitz komme, da ich sofort auf den Rechtsdruck in Chemnitz und Umgebung angesprochen werde."

"Ich wäre gern geblieben."

Ein anderes Bild zeichnet sich bei meiner Kommilitonin, die nach mehreren Jahren Studium und Arbeit in Chemnitz ihren Weg in Dresden gefunden hat. Sie kennt das beschriebene Gefühl gar nicht. "Nein, hatte ich tatsächlich nie. Ich habe immer gern erzählt, wo ich wohne und dass ich Chemnitz sehr mag." Sie zog es wegen der Arbeit weg aus Chemnitz. Sehr ähnlich geht es einem ehemaligen Arbeitskollegen von mir, den es der Arbeit wegen nach Leipzig verschlug, er studierte ebenfalls in Chemnitz und Freiberg, stammt aber aus Riesa. Er kennt das Szenario auch, fühlt sich aber nicht schlechter, weil er hier lebte: "Das liegt aber eher an meiner Persönlichkeit, ich gebe da nicht so viel drauf. Es gibt aber einige in meinem Chemnitzer Freundeskreis, welche dieses negative Gefühl kennen und sich nach der Frage nach dem Wohnort immer erklären. Ich wurde aber auch viel drauf angesprochen, warum ich nach Chemnitz gezogen bin. Also eher eine abwertende Frage, wieso ich dies gemacht habe. Ich bin wegen meiner Arbeit weggezogen. Wäre sonst geblieben."

"Ich habe mich nie dafür geschämt, in Chemnitz geboren zu sein."

Eine andere Kommilitonin von mir arbeitet in Leipzig, wohnt aber in Chemnitz und macht viel Home Office, sie will hier bleiben. "Ich habe mich nie dafür geschämt, in Chemnitz geboren zu sein. Allerdings hatte ich früher oft das Gefühl, in Chemnitz etwas zu verpassen, da die Infrastruktur für junge Leute nicht sonderlich ausgeprägt war und man das Gefühl hatte, dass die Stadt von Rentnern eingenommen ist. Dies hat sich meiner Meinung allerdings schon verbessert. Obwohl ich kurzzeitig die Überlegung hatte aus Chemnitz wegzuziehen (nach Leipzig oder Dresden), stehe ich heute absolut dazu, es nicht getan zu haben."

Scheinbar kennen doch mehr Menschen das Szenario als ich dachte. Es geht also nicht nur mir so, dass man als Person aus Chemnitz schräg beäugt wird. Einige geben nur nichts drauf, aber mich macht das sauer, eben weil ich Chemnitz mag.

Chemnitz hat auch schöne Seiten

Damals in der Schule musste man immer zuerst etwas Positives sagen, bevor man Kritik an einer Sache üben durfte. Okay, fangen wir mal an. Was Chemnitz für mich sehr lebenswert macht, was ich aber erst richtig gemerkt habe, nachdem ich hier schon gelebt habe: Die Stadt ist eine verdammt geile Studienstadt. Viele Fakultäten haben wissenschaftlich einen sehr guten Ruf, der Campus ist sehr überschaubar, man kennt die Dozierenden persönlich und das Studentenleben hat enorm viel zu bieten. Die Clubs und Initiativen sind eine richtige Gemeinschaft, sodass man super schnell Anschluss und Leute mit dem Herz am rechten Fleck findet. Außerdem sind die Lebenshaltungskosten geringer als in anderen Städten Deutschlands und Chemnitz hat trotz der 250.000 Einwohner eine überschaubare Größe, wo man sich nicht verliert. "Ich mag einfach, dass Chemnitz wie ein Dorf ist, indem eine Straßenbahn fährt", sagt eine Freundin.

Die sympathische Stadt von nebenan

Aber auch die Umgebung hat ihre Reize, man hat kurze Wege (was auch an der guten Autobahnanbindung liegt) nach Leipzig, Dresden oder Prag, man ist schnell im Erzgebirge und kann die wunderschöne Natur genießen und im Winter auch tolle Sportarten ausüben. Dafür ist die Region ja auch bekannt.

Für mich ist Chemnitz ist eine verborgene Perle, die noch nicht angespült wurde. Hier kann man sich noch einbringen und die Stadt, vor allem kulturell, noch mitgestalten. Chemnitz ist noch nicht so fertig und vollendet, wie z.B. Dresden. Wir sind Kulturhauptstadt Europas 2025 und wir verdienen diesen Titel auch! Dadurch wird viel in die Kultur investiert.

Im Sommer weiß man gar nicht wohin man zuerst gehen soll: Den Open Airs ins Wasserschloss, Party in der Spinnerei, zum Parksommer, den Filmnächten, zum Weinfest, Brauereimarkt, Kartoffelfest, WooosnHutfestival, Fete de la MusiqueKosmos,… versteht ihr, was ich meine? Es gibt schon ziemlich viele Events in der Stadt, man muss sie nur annehmen. Auch die Museumslandschaft ist sehr modern: Von Kunst über Natur bis zur Industrie. Ich meine auch die Kommissare vom Erzgebirgskrimi  filmen in Chemnitz. Ziemlich cool ist auch, dass sich immer mehr Start-Ups in Chemnitz ansiedeln. 

Das hässliche Entlein von Sachsen

Doch leider hat Chemnitz einen schlechten Ruf und das nicht erst seit 2018. Die sogenannte "Stadt der Moderne" ist nicht so modern, wie man meinen mag. Warum soll man in die City gehen, wenn Fahrradwege und -ständer an allen Ecken und Enden fehlen, die Stadt die Parkgebühren in die Höhe treibt, die Zuganbindungen an andere Großstädte schimpfenswert und der Stadt-ÖPNV vor allem nachts eine Zumutung ist? Wir haben immer noch keine ICE-Anbindung (als einzige Stadt mit einer Einwohnerzahl in dieser Größenordnung: 250.000) und in den Abendstunden hat man das Gefühl man ist auf dem Dorf, weil man einfach keine Leute mehr sieht. (Manche mögen das ja.)

Leipzig hat die Karli, Dresden die Neustadt, doch was hat Chemnitz?

Leipzig hat die Karli, Dresden die Neustadt, doch was hat Chemnitz? Die Innere Klosterstraße? Den Brühl? Naja... Chemnitz hat ein paar wenige Clubs und Bars, die über die Stadt verteilt sind. Eine richtiges Ausgehviertel findet man nicht. Auch Bands verirren sich nur selten in unsere Gefilde (Am Dienstag schaffte es Mia Morgan aber ins Atomino). Außerdem machen die meisten Supermärkte 20 Uhr dicht. Vielen jungen Leuten fehlen bessere Shoppingmöglichkeiten, denn dafür fahren sie meistens auch in benachbarte Großstädte.

Selbst bei Sehenswürdigkeiten fängt man schnell an das Umland einzubeziehen, weil Chemnitz nur den Roten Turm, den Karl-Marx-Kopf und den Lulatsch (wenn man den überhaupt zählen kann) hat. Die wenigsten, die hier Studieren und Ausbildung machen, bleiben auch wirklich hier, weil es in verschiedenen Bereichen, wie der Automobilindustrie oder der Medien- und Marketinglandschaft einfach zu wenige oder schlechter bezahltere Jobs als in anderen Städten gibt. Außerdem fehlen Naherholungsorte. Man muss bis ins Leipziger Neuseenland oder tief ins Erzgebirge fahren, um Natur und Wasser um sich zu haben. In manchen Stadtteilen gibt es kaum Grünflächen. Für Menschen mit Hunden ist das auch uncool.

Stadtzentrum: Zwischen sozialem Brennpunkt und Kulturhotspot?

Auch das Stadtbild ist an vielen Punkten nicht schön. Neben einem modernen Neubau steht die Abrissruine, dann wieder Jugendstil und Altbau, dann plötzlich ein verirrtes Einfamilienhaus. Und außerdem ist gefühlt überall eine Baustelle, aber nach den Bauarbeiten hat man nur selten das Gefühl, dass etwas schöner geworden ist. Das Stadtbild leidet und wenn man dann noch begreift, dass die Innenstadt zum sozialen Brennpunkt geworden ist, dann weiß man, warum viele sie meiden und nur zum Weinfest und Weihnachtsmarkt vorbeischauen.

Die Polizeipräsenz ist hoch, was niemanden verwundert.  Immer wieder kommt es zu Gewalt im Stadthallenpark, am Wall, der Brückenstraße oder der Zenti. 2018 wurde am Rande des Stadtfests einen Mann abgestochen. In den folgenden Wochen wurde Chemnitz weltbekannt, aber auf negative Weise, denn hier marschierten Nazis auf. Ja, wir haben ein Problem mit Rechten, aber das anzuerkennen gestehen sich viele nicht ein. Ich meine Pro Chemnitz und die AfD nehmen immerhin 14 von 50 Plätzen im Stadtrat ein. Autsch.

Chemnitz, was machen wir nur mit dir?

Chemnitz ist unser Problemkind. Es bemüht sich stets, hat viele Unterstützer und ist eigentlich sehr liebenswert. Es hat ein paar schöne Ecken, wie den Stadtpark und den Schlossteich, den Küchwald und den Theaterplatz (hier erzählte mir ein Kumpel, er nennt ihn vor Besuchern immer "Klein-Dresden" - badumzz) und doch wird es von anderen immer gemobbt, weil es nicht genug ist. Vielleicht muss sich Chemnitz auch eingestehen, dass es nur besser werden kann, wenn die Kritik angenommen wird. Wir wollen in etwas über einem Jahr Kulturhauptstadt feiern und das Gebäude hinterm Karl-Marx-Kopf, was IMMER abgelichtet wird, bekommt nicht mal eine neue Fassade… Und die Leute kriegen zur Kulturhauptstadt viel zu wenig mit, scheinbar gibt es da auch ein Kommunikationsproblem. 

Wie soll unser Ruf denn besser werden? Ich wünsche mir für Chemnitz, dass mehr Entwicklung und Kritik umgesetzt wird. Damit das hässliche Entlein zum schönen Schwan werden kann und die Leute, die uns ein schlechtes Gefühl geben, weil wir hier leben, neidisch werden. Und wir können ja auch nicht alle wegziehen. Wir müssen auch den vorhandenen Nazis etwas entgegen bringen. Also Go Chemnitz! Ich glaube an dich.


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